S e c h s t e r A b s c h n i t t
Überblick über die Geschichte, die theoretischen und
politischen Formen des Universalismus
Die Arten, den Begriff der Ganzheit der Gesellschaft zu erfassen, sind
weniger eindeutig gegeben wie die Arten, den Begriff des Ein- / zelnen zu
erfassen; weshalb die systematischen und politischen Formen des
Universalismus weit vielfältiger sind als jene des Individualismus. Daher
ist eine ausführlichere Auseinandersetzung als dort nötig. Ehe wir uns
diesen Fragen zuwenden, werfen wir auf die Lehrgeschichte des
Universalismus einen kurzen Blick.
I. Geschichtlicher Überblick
Die Sittenlehren und Staatstheorien von Platon, Aristoteles, den Stoikern stellen
durchgebildete universalistische Systeme dar; ebenso die chinesische Ethik und Staatslehre
des Kungfutse (Konfuzius) und Laotse
1
. Bezeichnend für alle diese Theorien ist, daß der Staat
ihnen kein „Verein“, „Vertrag“, sondern eine sittliche Erziehungsanstalt ist, also
universalistisch aufgefaßt wird. — Universalistisch ist auch die Sitten- und
Gesellschaftslehre des Christentums
2
. Auf universalistischer Grundlage bleiben auch die
Theorien des Mittelalters, worunter Thomas von Aquino
3
und Alighieri Dante
4
hervorzuheben sind.
In der Neuzeit kommen die individualistischen Naturrechtstheorien zur Herrschaft. Die
Kantische Sittenlehre, als absolut utilitätsfeindlich, zerstört zuerst deren ethische Grundlage.
Fichte, Schleiermacher, Schelling, die Romantiker, darunter besonders Adam Müller (auch
Schlegel und Novalis), Hegel, Krause, Baader, der jüngere Fichte und daneben die historische
Rechtsschule bilden wieder großartige universalistische Theorien aus. D i e s i s t d i e
g r ö ß t e L e i s t u n g d e s d e u t s c h e n G e i s t e s i n d e r G e s c h i c h t e ,
denn damit sind die durch den Utilitarismus zerstörten Grundlagen für die Neugestaltung
der abendländischen Kultur wieder geschaffen worden, während der
1
Ausführlich darüber unten S. 265 ff.
2
Trotz der im Schrifttum gemachten Vorbehalte, siehe unten S. 239 ff.
3
Vgl. Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre des Thomas von Aquino,
herausgegeben und übersetzt von Friedrich Schreyvogl, Jena 1922.
4
Vgl. darüber Fritz Kern: Humana civilitas, Staat, Kirche und Kultur, Eine
Dante-Untersuchung, Leipzig 1913 (= Mittelalterliche Studien, Bd I, Heft 1).