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Individualismus notwendig kulturfeindlich ist, mag er auch als begreiflicher Widerspruch

gegen schlechte und unfruchtbare geschichtliche Bindungen und Zustände seine begrenzte

Berechtigung haben. Freilich gelangte in Deutschland besonders nach dem Sturze der

Hegelischen Philosophie und ihrer Schulen der Individualismus in Theorie und Praxis zur

Herrschaft, während daneben die universalistische Rechtsphilosophie in Ahrens und Stahl

ebenso wie im Grunde auch der (bloß scheinuniversalistische) Sozialismus nur wenig Einfluß

auf den Geist der Kultur gewann. Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wachsen

dagegen die universalistischen Strömungen unaufhörlich an. Und durch die Überwindung

der empiristischen und relativistischen Philosophie mit dem Siege der neukantischen Schule,

ja durch die innere Umbildung sogar, welche die Naturwissenschaft mit der Abkehr vom

Darwinismus erfährt, sind die Grundlagen für eine hoffnungsvollere Entwicklung gegeben

1

.

/

II. Die Hauptarten, den Begriff der Gesellschaft universalistisch

zu denken

A. Die b i o l o g i s c h - o r g a n i s c h e

G e s e l l s c h a f t s a u f f a s s u n g

Um dem Grundirrtum des Individualismus zu entfliehen, der in den

Einzelnen lauter eigene Kraftzentren und im gesellschaftlichen Ganzen

nur den Mechanismus derselben, also ein bloßes Schein-Ganzes, sieht,

suchten viele Forscher im Begriffe des biologischen Organismus eine

Stütze.

Darüber wurde oben

2

kurz berichtet. Tatsächlich wäre auch der Begriff des Organismus

fähig, eine Vorstellung wahrer Ganzheit zu vermitteln, in der nichts Einzelnes — z. B. kein

Organ, keine Zelle, kein Zellbestandteil — a l s s o l c h e s vorkommt und denkbar ist, da

jedes Einzelne sofort seine Wesenheit verliert (stirbt), sobald es aus der Ganzheit heraustritt

und sich zu einem eigenen Selbst machen will, z. B. wenn eine Hand abgehackt, wenn

Muskelzellen herausgeschnitten werden. So betrachtet, besteht das Einzelne — die Zelle, die

Hand — nicht als solches, sondern nur als G l i e d , das ist als Bestimmungsstück, als

Ausgliederungsstufe der Ganzheit.

Auf solche Weise vermochten aber jene stets materialistisch gerichteten Forscher,

welche die „organische Schule“ bildeten

3

, den Begriff des Organismus nicht zu fassen. Sie

faßten ihn im Gegenteil wieder selbst als Inbegriff chemisch-mechanischer Vorgänge, nach

Art der sogenannten Zellularphysiologie, die den Körper aus den einzelnen Zellen

z u s a m m e n s e t z t , und ergingen sich in so

1

Über Kant und Fichte vgl. unten S. 256 ff.

2

Siehe oben S. 23 f.

3

Herbert Spencer und so fort, siehe oben S. 24.