S i e b t e r A b s c h n i t t
Die Baugesetze der Gesellschaft nach universalistischer
Auffassung oder die obersten politischen Grundsätze des
Universalismus im Vergleich zum Individualismus
betrachtet
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I. Die Gerechtigkeit
Wie der maßgebende politische Grundbegriff der Einzelheitslehre
die Freiheit ist, so jener der Ganzheitslehre die Gerechtigkeit. Wer
von dem selbstherrlichen Einzelnen ausgeht, muß dessen unbehin-
derte Selbstbewegung, die Freiheit, als oberstes Erfordernis betrach-
ten; wer vom Ganzen ausgeht, die Angemessenheit der Teile im
Ganzen, nämlich die Gerechtigkeit. Vom Ganzen aus gesehen, ist
daher die Gerechtigkeit ein Begriff der richtigen Entsprechung
(Korrelation) der Teile zueinander, ein Baubegriff, ein konstrukti-
ver Begriff. Vom Einzelnen aus gesehen, kann man sagen: Das, was
in der Natur des Gliedseins für den Einzelnen liegt, das ist das
Gerechte; denn das Gliedsein ist zugleich das Lebenswesentliche,
die Lebensnahrung des Einzelnen. Gerechtigkeit ist daher ebenso-
wohl etwas, was ich von mir aus fordere — nämlich das mir le-
benswesentliche / Bestandteilsein im geistigen Ganzen; wie auch
etwas, das vom Ganzen heraus gefordert wird, nämlich das, was das
Ganze, mich als seinen Teil erschaffend, mir zuteilt. Diesen Dop-
pelsinn hat auch die bekannte Formel für die Gerechtigkeit, „suum
cuique“, jedem das Seine. Mir wird das zuteil, was ich dem Ganzen
bin. „Au s t e i l e n d e G e r e c h t i g k e i t“, das heißt, Gerech-
tigkeit vom Standpunkt des Ganzen aus („distributive Gerechtig-
keit“,
έν ταΐς
δ
ιανομαΐς
bei Aristoteles); wie auch: Ich bin dem
Ganzen, was ich ihm sein kann, ich fordere, dem Ganzen alles sein
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Dieser Abschnitt folgt bis zu Stück 6 zum Teil meinem Buch: Der wahre
Staat, I. Aufl., Leipzig 1921, S. 50 ff. [4. Aufl., Jena 1938, S. 38 ff.].
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