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Gibt es einen individualistischen Gerechtigkeitsbegriff? Für den

Universalisten kann es einen anderen Gerechtigkeitsbegriff als die

austeilende und hingebende Gerechtigkeit nicht geben. Die indivi-

dualistische Denkweise hat aber von ihrem Standpunkte aus einen

eigenen Gerechtigkeitsbegriff gebildet, die sogenannte ausglei-

chende, e n t g e l t e n d e o d e r k o m m u t a t i v e G e r e c h -

t i g k e i t

(έν τοΐς συναλλάγμασιν

bei Aristoteles). Die entgeltende

Gerechtigkeit geht auf den biblischen Grundsatz: Aug um Auge,

Zahn um Zahn. Ob dieser Grundsatz den Namen Gerechtigkeit und

nicht vielmehr den der Rache verdiene, möge auf sich beruhen,

aber man muß zugeben, daß er von der Voraussetzung des selbst-

bestimmten und selbstgenugsamen Einzelnen her folgerichtig ist.

Bin ich autark, dann ist das, was ich hingebe, mein eigenstes (al-

leiniges) Erzeugnis und Eigentum. Ich gebe nur, wenn ich bekomme,

und zwar wenn ich mindestens ebensoviel bekomme, als ich gebe.

„Gerechtigkeit“ geht daher hier auf den Tauschbegriff zurück —

als „entgeltende Gerechtigkeit“. Der Tausch verlangt im Idealfalle,

daß gleich um gleich gegeben werde. Die I d e e d e r G l e i c h -

h e i t b e h e r r s c h t d a h e r d i e e n t g e l t e n d e G e r e c h -

t i g k e i t . Diese Gerechtigkeit als Gleichheit hat sich insbesondere

in der individualistischen Wirtschaftslehre festgesetzt. Ricardo und

Marx haben den Tausch als Gleichung objektiver Wertmengen (näm-

lich von Arbeitsstunden) gefaßt und in diesem Sinne den ganzen Ab-

lauf der Wirtschaftsvorgänge dargestellt

1

. Entscheidend ist dabei der

Begriff des gerechten Preises. Nach individualistischer (entgeltender)

Vorstellung ist der gerechte Preis der Kostenpreis; das heißt, es sol-

len gleiche objektive Wertsubstanzen (Kosten) getauscht werden.

Man könnte dies in den Satz kleiden: „Leistung nach der Gegenlei-

stung“. Nach universalistischer Vorstellung dagegen ist der gerechte

Preis kein einheitlicher Preis, sondern ein abgestufter. Er ist ver-

schieden zu bemessen, je nach der Fähigkeit des Käufers, mehr oder

weniger zu geben, und je nach der Fähigkeit des Verkäufers, mehr

oder weniger von der betreffenden Ware zu entbehren (abzugeben).

Man könnte dies in den Satz kleiden: „Leistung nach der Lei-

stungsfähigkeit.“ Ungleiches, nicht Gleiches wird hier gerechter-

weise getauscht.

1

Davon später mehr, siehe unten viertes Buch, S. 454 ff.

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