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Die entgeltende Gerechtigkeit, welche aus dem Verhältnis zweier /
Gebender eine Gleichung macht, hat nicht einmal in der Wirtschafts-
theorie volle Berechtigung; soziologisch aber ist sie gänzlich unmög-
lich. Denn das geistige Leben, als das, was das Wesentliche der Ge-
sellschaft ausmacht, ist keine Krämerbude. Hier leidet der individua-
listische Gerechtigkeitsbegriff vollständig Schiffbruch.
I.
Die Freiheit
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1.
I n d i v i d u a l i s t i s c h g e f a ß t . Im individualistischen
Sinne ist, wie wir wissen, Freiheit das Höchstmaß des Fürsichseins,
das Nichtgestörtsein des Einzelnen in seiner Selbstbestimmtheit und
Selbstgenugsamkeit und sohin (wie auch oben ausgeführt) der not-
wendige politische Hauptbegriff des individualistischen Denkens.
Das Gegenteil von Freiheit ist der Zwang; wo das Fürsichsein ge-
stört wird, tritt Zwang, Hemmung, also das Gegenteil von Freiheit
ein.
2.
U n i v e r s a l i s t i s c h g e f a ß t . Für die universalistische
Ansicht der Dinge steht all dies ganz anders. Da ist das Dasein des
anderen nicht störend für mein Dasein, sondern umgekehrt: Mein
geistiges Sein ist erst dadurch, daß ein anderes geistiges Sein ist. Der
andere ist kein Hindernis, vielmehr grundsätzliche Bedingung mei-
nes eigenen Seins. Freiheit besteht nicht in möglichstem Alleinsein
und ist nicht das Höchstmaß von Willkür, sondern im Gegenteil:
M e i n e F r e i h e i t i s t n u r d a d u r c h m ö g l i c h , d a ß
e i n a n d e r e r i s t , und daß eine andere Freiheit ist. Der Indi-
vidualist dagegen erklärt die Freiheit des einen e i n g e s c h r ä n k t
durch die Freiheit des anderen. Man ermesse, welcher Irrtum nicht
nur, nein, welche Verworfenheit dazu gehört, so kalt, so werkzeug-
haft, so seelenfeindlich von seinem Freund, Genossen, Mitbürger zu
denken.
F r e i h e i t i m u n i v e r s a l i s t i s c h e n S i n n e ist zuerst
ein dynamischer Begriff. Während der individualistische Freiheits-
begriff von der Autarkie ausgeht, vom Fertigsein des Individuums
vor aller Vergemeinschaftung und Verbindung, also mehr statisch
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Die sittliche Freiheit oder Willensfreiheit ist streng zu unterscheiden von
der hier allein behandelten sozialen oder politischen Freiheit.