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dienen sollen. Auch wenn man das nur „Naturinstinkt“ oder „Heil-
instinkt“ nennt, wie Perty, nimmt man damit / ja ebenfalls einen
v e r b o r g e n e n Z u s a m m e n h a n g d e s M e n s c h e n
m i t d e m i n n e r e n N a t u r l e b e n , also mit dessen imma-
teriellen Zentren an.
Wesentlich ist, daß die innere Verbundenheit des Menschen mit
dem Heilmittel erst im somnambulen Zustand zutage tritt — da-
her die Verbindung mit der Religion in alter Zeit. Von der alt-
jiidischcn, ekstatischen Sekte der Essener z. B. heißt es, daß sie sich
„auf Heilungen durch Wurzeln und die Kräfte der Steine ver-
stehen“
1
— also genau den Erscheinungen der „Seherin von Pre-
vorst“ entsprechend!
In dem schon erwähnten heiligen T e m p e l s c h l a f , einer Art
von magnetischem Schlaf, sahen die Inkubanten den Gott Asklepios
oder Apollon, oder sie vernahmen die Stimme des rettenden Gottes
mit der Heilanweisung. Diese wurden daher auch als eigenes Orakel,
als sogenanntes I n k u b a t i o n s o r a k e l , bezeichnet, so beson-
ders in den Asklepiosheiligtümern der Griechen, ähnlich aber auch
der Ägypter und anderer Völker. „Mancher stiftete dann [nach
erfolgter Heilung] dem Heiligtume das Bild des ihm erschienenen
Traumes"
2
. Es gilt als antike Auffassung, daß die Ärztekunst „allein
aus dem Inkubationskult stamme“
3
. Und das ist im weiteren Sinn
genommen, sicher richtig.
Daß auf diese Weise innerhalb der polytheistischen Religiosität der T r a u m
selbst personifiziert und zu einem Gott werden konnte — Oneiros bei den
Griechen, ähnlich wie auch der Schlaf — Hypnos —, also abermals zu einer
religiösen Konkretion führt, ist verständlich. Ebenso zwanglos schließt sich
hieran die halbpriesterliche Funktion der T r a u m d e u t u n g an.
Endlich schließt sich hieran auch noch ein Geschäft der Zauberkunst im eigent-
lichen Sinn, die T r a u m s e n d u n g , bei den Griechen O n e i r o p o m p e i a
genannt. Diese wurde in der Praxis wohl hauptsächlich durch Suggestion und
magnetischen Rapport betrieben, wenn auch durch absurde Zauberpraktiken
verdeckt. Es liegt nahe, daß dann auch G o t t h e i t e n a l s T r a u m s e n -
d e n d e betrachtet werden, so besonders Hermes, mit dem bereits die Namen
1
Eduard Meyer: Ursprung und Anfänge des Christentums, Bd 2, Stuttgart
1922, S. 61.
2
Hedwig Kenner: Artikel Oneiros, in: Paulys Realenzyklopädie der klassi-
schen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1894, Bd 18, Hälfte 1, S. 457. — Vgl.
Joseph Ennemoser: Geschichte der Magie, Leipzig 1844, S. 112 ff.
3
Hedwig Kenner: Artikel Oneiros, in Paulys Realenzyklopädie.