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schaften bedeutet hätte. Dazu war die Zentralisierung und Vermas-
sung aller Bereiche des Lebens und besonders der Wirtschaft bereits
allzuweit vorgeschritten und das damalige Regime zu einer Umkehr
weder gewillt noch imstande. Dies war von Spann und mir, als seinem
damaligen Mitarbeiter, sehr früh und klar erkannt worden.
Im sudetendeutschen Bereiche wurden die Aktivitäten ab 1934
weitgehend aufgegeben. Gerade dort hätten allerdings die Dinge
eine andere Entwicklung nehmen können, wenn der vom soge-
nannten „Kameradschaftsbund“ angestrebte föderalistische Aufbau
der Tschechoslowakei verwirklicht worden wäre. Dies wird neuer-
dings in einer sorgfältigen, auf reichem Quellenmaterial beruhenden
Arbeit des amerikanischen Historikers Ronald M. Smelser
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ein-
drucksvoll nachgewiesen. Er zeigt auf, wie entschlossen und mit
welchem Mute — wenn auch vergeblich — eine Handvoll Männer
um die Verwirklichung des Gedankens eines sudetendeutschen
Stammeskörpers, also einer Gesamtautonomie ihrer Volksgruppe
innerhalb eines föderalistischen Mehrvölkerstaates, und damit um
die Erhaltung der Einheit der Länder des böhmischen Raumes
damals gerungen hat. Das Gedankengut zumindest jedoch ist bis
heute, heute vielleicht mehr denn je, von europaweiter Bedeutung
geblieben.
IV.
Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung
um die Ganzheitslehre
Daß Spann wissenschaftlich umkämpft war, ist verständlich.
Stand doch seine Lehre vielfach in scharfem Gegensatze zu den
herrschenden Lehrmeinungen, besonders da sich mit dem von ihm
begründeten ganzheitlichen Verfahren zugleich die Ablehnung
der kausalen Verfahrensweise in Gesellschafts- und Geisteswissen-
schaft verband. Schon die Berufung auf die große geistesgeschicht-
liche Tradition, in die er sich gestellt sah — auf Platon und Aristo-
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Ronald M. Smelser: The Sudetenproblem, 1933—1938. Volkstumspolitik and the
Formulation of Nazi Foreign Policy, Middletown 1976.