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trachtung dieses Geschehens als nach Kausalgesetzen m ö g l i c h e s Eintreten
(als eine m ö g l i c h e E r f ü l l u n g von Zwecken) noch eine Betrachtung ihrer
inhaltlichen B e r e c h t i g u n g , das heißt ihrer i n h a l t l i c h e n B e z i e -
h u n g z u h ö h e r e n Z w e c k e n durchführen. Diese beiden Arten der Be-
trachtung der Wirklichkeit trennt Stammler grundsätzlich voneinander. Die
erstere ist die kausale, die letztere die t e l e o l o g i s c h e oder, wie sie Stammler
mit Vorliebe nennt, die f i n a l e Betrachtung.
Stammler begründet diese teleologische Auffassung der Sozialwis-
senschaft mittels psychologischer Analyse aus dem Willensphänomen,
und zwar in Kantischem Sinne. Diese Seite seines Gedankenganges
ist indessen einer e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Betrachtung
vorzubehalten. Hier ist uns nur die sozialwissenschaftlich-methodi-
sche Seite, um es zu wiederholen, wichtig. Darnach können die Tat-
sachen des menschlichen Zusammenlebens auf zweifache Weise vor-
gestellt werden: entweder schlechthin als Naturprozesse, als Erschei-
nungen der menschlichen Wechselbeziehung, das heißt als k a u s a l
bedingte, notwendige; oder als zu e r s t r e b e n d e ,
a l s
Z w e c k e , deren Erreichung durch Mittel g e w o l l t , bewirkt
wird, (innerlich) freie. Demgemäß muß das Zusammenleben der
Menschen auch einer zweifachen denkenden Betrachtung unterliegen:
(1) Das Verbundensein der Menschen, als „natürliche Anziehung“
(Wechselbeziehung) gedacht, unterliegt k a u s a l e r Betrachtung.
Diese obliegt der N a t u r w i s s e n s c h a f t . (2) Das Verbunden-
sein der Menschen, als durch gemeinsame Zwecke (= gesetzte Re-
geln) vollzogen gedacht, unterliegt der t e l e o l o g i s c h e n Be-
trachtung, der „Erwägung von Zweck und Mittel“. Diese obliegt der
S o z i a l w i s s e n s c h a f t . Die Ergebnisse der kausalen Betrach-
tungsweise sind wahre oder unwahre Erkenntnisse, je nach ihrer
Übereinstimmung mit der „grundlegenden Gesetzmäßigkeit der Na-
tur“; die der teleologischen Betrachtungsweise berechtigte oder un-
berechtigte Urteile, je nachdem sie sich einem höchsten Endzweck,
der „unbedingt, absolut und ewig ist“ (in unserem Falle einem so-
zialen Ideal), einordnen, das heißt in seiner Richtlinie liegen oder
nicht. Diese teleologische Auffassung vom Sozialen ist insofern „mo-
nistisch“, das heißt den Gegenstand der Sozialwissenschaften als
G o t t l - O t t l i l i e n f e l d (Die Herrschaft des Wortes, Untersuchungen zur
Kritik des nationalökonomischen Denkens, Jena 1901 und die Artikelreihe: Zur
sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik, Bd 23 und 24, Tübingen 1906 und 1907).