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Diese studiert „nicht die Phänomene des isolierten Ich, sondern jene
des in Wechselbeziehung mit anderen Befindlichen“; ihr Objekt ist
das I n t e r p s y c h i s c h e
1
.
Nach R ü m e l i n erweisen sich die gesellschaftlichen Erscheinun-
gen „als die spontanen, unbefohlenen Massen- und Wechselwirkun-
gen der individuellen Kräfte innerhalb der von den staatlichen
Ordnungen gezogenen Schranken, sowie auf der Grundlage einer
gleichartigen oder verwandten Kulturstufe“
2
. Daher steht ihm von
einer Gesellschaftswissenschaft fest, daß sie „niemals auf einer an-
deren Grundlage [wird] aufgebaut werden können, als auf der psy-
chologischen“. Und eine Gesellschaftslehre ist nichts anderes als „die
Lehre von den natürlichen Massen- und Wechselwirkungen des
menschlichen Trieblebens unter den Einflüssen des Zusammenlebens
Vieler“
3
.
Auch F r a n k l i n H e n r y G i d d i n g s ’ Gesellschaftsbegriff
geht auf die psychischen Wechselbeziehungen zwischen den Indivi-
duen. Die soziale Elementar-Tatsache ist ihm die G a t t u n g s -
e m p f i n d u n g (consciousness of kind), unter welcher er einen
Bewußtseinszustand versteht, in dem ein Individuum ein anderes
bewußtes Individuum als gleichartig erkennt
4
. Näher versteht er
unter Gesellschaft die Individuen, insofern sie miteinander verkeh-
ren und verbunden sind, „the union [der Individuen] itself, the
Organisation, the sum of formal relations, in which associating indi-
viduals are bound together“
5
.
1
Gabriel Tarde: La théorie organique des sociétés, in: Annales de l’Institut
international de Sociologie, Paris 1898, S. 258.
2
Rudolf von Rümelin: Uber den Begriff der Gesellschaft und einer Gesell-
schaftslehre, in: Reden und Aufsätze, Tübingen 1894, S. 259. — Vgl. darüber
auch R u d o l f S t a m m l e r : Wirtschaft und Recht nach der materialistischen
Geschichtsauffassung,
Eine
sozialphilosophische
Untersuchung,
Leipzig
1896,
S. 85 ff. — R ü m e l i n s Begriffsbestimmung hat E b e r h a r d G o t h e i n
(Artikel Gesellschaft und Gesellschaftslehre, in: Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, Bd 3, 2. Aufl., Jena 1900) angenommen.
3
Rudolf von Rümelin: Uber den Begriff der Gesellschaft und einer Gesell-
schaftslehre, in: Reden und Aufsätze, Tübingen 1894, S. 267.
4
Franklin Henry Giddings: Principles of Sociology, New York und London
1896, S. 17.
5
Franklin Henry Giddings: Principles of Sociology, New York und London
1896, S. 3, vgl. ferner S. 13 ff., 75, 413 und 420 ff.; Inductive Sociology, New
York 1901, S.
6
und öfter.