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jeder Mensch in seiner Art. Plötzlich trifft ihn die neue Berührung
eines Geistigen, ein neuer Freund, ein neues Wort, ein neues Buch,
und er fühlt in sich ein neues Werden des Geistes. Ein neues Vorbild
kommt an ihn heran, und er fühlt dieselben Kräfte in sich wie die-
ses Vor- und Gegenbild. Da wacht das Dornröschen in uns auf, und
eine neue Seele, eine neue Welt gewinnt Leben, Wirklichkeit und
Gestalt.
In vielen germanischen Märchen begegnet uns die zauberhafte
Gestalt jenes Riesen, dessen Herz in einen Vogel eingeschlossen ist,
und der nicht verwundet werden oder sterben kann, solange dieses,
sein Herz (oder Gegen-Herz) noch lebt. Wenn nun der Vogel auf
einer fernen Insel getötet wird, stirbt der Riese von selbst. Hier ist
in einem großen Bilde gezeigt, wie der Mensch einer anderen We-
senheit verhaftet ist. Das Du, das uns gegenübertritt, das ist u n s e r
Herz, u n s e r anderes Selbst, der Sitz und die Quelle unseres Le-
bens und unserer Kraft. Nicht in uns selbst finden wir sie. Der Ge-
gengeist allein ist der Ankergrund unseres eigenen Geistes.
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Mit allen diesen Bildern suchten wir den Grundgedanken der
Ganzheitslehre oder des Universalismus immer wieder darzustellen.
Schon die zergliedernde Betrachtung hat uns die Grundtatsache alles
gesellschaftlichen Lebens aufgedeckt; aber es gilt auch, sie in voller
Lebendigkeit und Tragweite zu erfassen. Denn nicht leicht ist es,
die Größe des Gedankens auszumessen, der uns lehrt, daß alles mit
allem verwandt, alles an alles geknüpft ist.
§ 11.Der Begriff des Einzelnen
Nachdem wir die Ganzheit als durch Bewegung lebend und wach-
send erkannten, verbleibt die Frage nach dem Wesen des Einzelnen-
Diese zweite Frage ist die Feuerprobe jeder universalistischen Lehre,
es gilt, außer dem Ganzen auch den Einzelnen zu erklären. Hier ist
nicht der Ort, diese Frage auszuschöpfen (da eine Theorie der Indi-
vidualität tief ins Philosophische führen würde); jedoch soll den
Hauptpunkten nicht aus dem Wege gegangen werden.
Die Hauptbestimmungsstücke des Begriffes des Einzelnen, die sich
aus dem entwickelten Begriffe von Ganzheit ergeben, sind: Erstens,
wenn das Überindividuelle das Ursprüngliche (Primäre) ist, dann ist
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