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das Einzelne nur etwas der Möglichkeit nach Seiendes (die „Suvccpig“,

das bloß Potenzielle), und zweitens, es ist ein Einzigartiges, es ist

Besonderheit, Individualität. Betrachten wir diese beiden Bestim-

mungsstücke.

(a) Das Individuum ist seinem Wesen nach nicht selbst geschaffen,

vielmehr ist das Überindividuelle die ursprüngliche Wirklichkeit,

und diese weckt und bildet erst den Einzelnen. Somit ist der Ein-

zelne als solcher nur etwas, das sein k a n n , nur etwas der Mög-

lichkeit nach Seiendes, nur ein Schlummerndes, nur Fähigkeit, Po-

tenz. Wirklich (aktualisiert) wird dieses Mögliche, Fähige erst durch

Gemeinschaft allerdings nicht mechanisch, sondern durch E i g e n -

t ä t i g k e i t , durch gliedhaftes Eigenleben.

Daß dem so ist, beweist auch die Geistesgeschichte. Darin er-

scheint vor allem jeder große Mann, wie man zu sagen pflegt, in

einem „geistigen Zusammenhange“, das heißt aber: in einer Ge-

meinschaft mit anderen großen Männern und deren Lehren (die sich

schließlich bis in graue Vorzeiten zurück verfolgen lassen). Als

Kronzeugen möchte ich da Goethe anführen: „Man spricht immer

von Originalität“, sagt er zu Eckermann, „allein was will das sagen!

Sowie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken,

und das geht so fort bis an das Ende. Und überall. Was können wir

denn unser Eigen nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen! —

Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mit-

lebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig

1

.“ —

Unter den Gedichten („Epigrammatisches“) findet sich ferner ein

köstlich treffender Vers des Namens „Den Originalen“:

/

Ein Quidam sagt’: „Ich bin von keiner Schule!

Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;

Auch bin ich weit davon entfernt,

Daß ich von Toten was gelernt.“

Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:

„Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“

Je mehr der menschliche Geist die Gemeinschaft verschmäht, um

so abirrender und kümmerlicher gestaltet sich sein eigenes Werden.

1

Goethe zu Eckermann, 12. Mai 1825, Goethes Gespräche, Gesamtausgabe,

neu hrsg. von Flodoard von Biedermann, Bd 3, 2. Aufl., Leipzig 1910, S. 204.