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man den Begriff des Menschen zu Ende denkt, wird man von dem

Denken des Einen zum Denken des Anderen geführt

1

.“ Das heißt:

Wenn ich mich als einen Denkenden zu Ende betrachte, finde ich

immer, daß es ohne ein Mitdabeisein eines anderen Denkenden nicht

ginge, daß mein Denken ohne das andere überhaupt nicht da wäre.

Fichte hat diese Grundansicht gefaßt, aber allerdings in seiner Ge-

sellschaftslehre noch nicht die Folgerungen daraus ziehen, nicht ganz

aus dem Ei des Naturrechts herausschlüpfen können. — S c h e l -

l i n g prägte das Wort: „Das Individuum wird gelebt“

2

, ein para-

doxes Gegenteil des Begriffes vom absoluten Individuum. Wörtlich

genommen, ist das freilich ein Satz, der in die Umweltlehre oder in

eine starre Form der Platonischen Ideenlehre führte. Indessen war

es bei Schelling so gemeint, daß der Einzelne der Daseinsweise nach

nur als Glied, nur in Wechselseitigkeit bestehe, was eine unumstöß-

liche Wahrheit aller gesellschaftswissenschaftlichen Analysis ist. —

Sehr viel sagt dem Kundigen auch G r i l l p a r z e r s Sappho in

einem Worte, das sie zu ihrem Geliebten spricht: „Ich suchte dich

und habe mich gefunden!“ Dieses Wort kann man überall sprechen,

wo gegenseitige Anregung, Auferweckung, Widerhall und schei-

dende Prüfung zu finden ist. Was wir auch im Andern suchen und

verlangen — immer sind wir selbst es, die neugeboren aus der Ge-

zweiung hervorgehen.

All dem Bisherigen möchte ich noch einen mittelbaren Beweis,

den Beweis aus der Unmöglichkeit des Gegenteils, hinzufügen. Er

folgt aus der schon berührten negativen Seite des Gezweiungsver-

hältnisses: der Unmöglichkeit ungezweiten Entstehens und Be-

stehens des Geistigen. Hierfür ist außer dem Beispiel, das wir oben

von Beethovens Neunter Symphonie gaben, ein gigantischer Ver-

gleich des A r c h y t a s vorhanden: „Wenn Jemand zum Himmel

hinaufstiege und die Natur der Welt und die Schönheit der Ge-

stirne erschaute, so würde das ihn beseligende Staunen seine Süßig-

1

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts (1796), Ausgabe Fritz

Medicus, Leipzig 1921, Bd 2, S. 37; Bd 3, S. 33 (= Philosophische Bibliothek,

Bd 128, 129).

2

Das war ursprünglich naturphilosophisch gemeint. Vgl. Friedrich Wilhelm

Joseph von Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Sämt-

liche Werke, Abt. 1, Bd 3, Stuttgart 1856, S. 42 ff. und Kuno Fischer: Geschichte

der neueren Philosophie, Bd 7: Schelling, Leben, Werke und Lehre, 3. Aufl.,

Heidelberg 1902, S. 391

f.