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Eigenlebens) gebracht werde. Gesellschaftswissenschaftlich wesentlich
ist also nicht, daß der Einzelne Gesinnung und Verband wechseln
könne, sondern vielmehr: daß er dies n i c h t o h n e G e z w e i -
u n g könne! Selbst wenn einer geistige Inhalte wechselte wie ein
Hemd, so bedeutet das nicht, daß er auch nur einen Augenblick lang
in den g e z w e i u n g s l e e r e n R a u m hinaus träte und wirk-
lich selbstbestimmt handelte, sondern daß er jeweils Glied einer
a n d e r n Gezweiung wird, in eine andere Gemeinschaft „eintritt“
(Umgliederung). Was der Einzelne flieht, ist eine Gemeinschaft,
was er findet, ist eine andere Gemeinschaft, und wenn einer bis an
den Nordpol flüchtete, was er findet, ist die Gemeinschaft mit an-
deren Geistern. Immer zeigt sich, daß die Form des individuellen
Lebens die Gezweitheit ist, ohne die das Dasein eines Geistigen nicht
gedacht werden kann.
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§ 12. Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen
Hier ist der Boden, auf dem die Ganzheitslehre ihre eigensten
Triumphe feiert. Wenn alles Geistige, das im Einzelnen ist, nur als
Gemeinschaftsbestandteil, und das heißt, nur als G l i e d e i n e s
G e s a m t g e i s t i g e n besteht, dann ist das Gesamtgeistige, die
„Gemeinschaft“, zugleich etwas Lebenswesentliches auch für den
Einzelnen. D i e s e l b e n i n n e r e n B e d i n g u n g e n g e i s t i -
g e n L e b e n s , d i e f ü r d i e G e m e i n s c h a f t g e l t e n ,
g e l t e n a u c h f ü r m e i n e u r e i g e n e W e s e n h e i t . Und
umgekehrt: Dieselben inneren Lebensgesetze, dieselben Sitten-
gesetze, die ich als geistiges Wesen in mir habe, gelten auch für das
Gesamtgeistige, die Gemeinschaft. Das Verhältnis, das ich nunmehr
zu dem anderen habe, habe ich nicht (wie nach dem Individualis-
mus) aus mir selber, als einer absoluten Wesenheit, und sohin zu
einem mir Fremden, mich Beschränkenden; vielmehr: als zu einem
mich Erhöhenden, Erweiternden und zuletzt mich selbst geistig
Wirklich-Machenden! Das Sittengebot, das ich aus m i r schöpfe,
quillt aus mir als einem G1 i e d e der Gezweiung; es gilt daher
lebenswesentlich erst für mich, indem es für mein Verhältnis zum
anderen gilt! Daraus folgt: Das Verhältnis des einen zum anderen,
das V e r h ä l t n i s d e s E i n z e l n e n z u r G e m e i n -
s c h a f t i s t e i n d u r c h u n d d u r c h s i t t l i c h e s . Es kann