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Welt aufgegangen, und er geht gleichsam als ein Freund und Ge-
zweiter des Waldesrauschens durch das Leben. Er verlegt in die Na-
tur des „Ernst’s Gewalt“ — eine sittliche Größe und Forderung, die
ihm beisteht und ihn durchs Leben begleitet.
Ich habe versucht, eine Reihe von Grundverhältnissen, die uns im
Leben entgegentreten, zum Beispiel dafür zu nehmen, welche Be-
wandtnis es mit dem geistigen Wachsen und Werden des Einzelnen
habe. Wenn der Individualismus behauptet, es geschehe aus sich
selbst heraus (Selbstgenugsamkeit und Selbstgeschaffenheit), so ergab
unsere Zergliederung das genaue Gegenteil: daß die T e i l -
n a h m e e i n e s a n d e r e n u n e r l ä ß l i c h f ü r d i e E n t -
s t e h u n g i r g e n d e i n e s G e i s t i g e n i m E i n z e l n e n
i s t.
Genauer besehen, hat nun diese Erkenntnis zwei Seiten. Es ist
nicht nur das Entstehen eines Geistigen, was an das Mitdabeisein
eines anderen Geistes gebunden ist, sondern auch das Bestehen
selbst. Der Geist des Einzelnen muß alsbald unsicher, schwankend,
verworren, erstickt werden und absterben, wenn eine Abtrennung
von aller anderen Geistigkeit erfolgt, wenn keinerlei Anteilnahme
an ihm mehr vorhanden ist. Nur die A n t e i l n a h m e e r -
h ä l t . Selbst wenn Beethoven die Neunte Symphonie schon fertig
gehabt hätte, er hätte nicht mehr den letzten Federstrich gemacht,
nicht mehr das letzte Tonzeichen hinzugesetzt, hätte er erkannt,
daß nie ein menschliches Ohr jenes gewaltige Wort, das er in ihr
spricht, vernehmen würde. (Es sei denn, daß er es um Gottes wil-
len, gleichsam in Gemeinschaft mit den Engeln und der Gottheit
vollendet hätte.) Er wäre in demselben Augenblick vernichtet zu- /
sammengesunken und hätte sein Werk als ein vergebliches ansehen
müssen. „All mein Empfinden stumm.“ Wir erkennen, daß die
G e z w e i u n g n i c h t n u r d i e G e b u r t s w e i s e d e s
m e n s c h l i c h e n G e i s t e s , s o n d e r n a u c h s e i n e B e -
s t a n d s w e i s e i s t .
Im gesellschaftsphilosophischen Schrifttum findet sich manche be-
deutende Formulierung, die es dem Neuling wie dem Forscher er-
leichtert, die universalistische Grundauffassung, wie sie in den vor-
getragenen Gedanken zum Ausdrucke kam, klar zu erfassen. Da ist
zuerst der Ausspruch F i c h t e s in seinem „Naturrecht“: „Wenn