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Ganzen o p f e r e , er vernichtet den Einzelnen. Diese Ansicht be-
ruht auf völligem Unverständnis; / besonders der Begriff des
„Opfers“ ist hier völlig schief und beruht auf einer falsch gestellten
Frage und darauf, daß das individualistische Gehirn in diesem
Falle aus seinem eigenen Irrtum nicht herauskommt. Der Indivi-
dualismus geht vom autarken, in sich beschlossenen Individuum
aus, das Vorteil gegen Vorteil abwägt und fragt, was ihm mehr
nütze, welches O p f e r an Nutzen es bringen soll, um anderen
Nutzen dafür einzutauschen. Dort aber, wo der Einzelne nur in
und durch Gemeinschaft ist, kann er nicht der Gemeinschaft, dem
Ganzen, etwas „opfern“, vielmehr: Wo die Gemeinschaft angegrif-
fen ist, steht er selbst auf dem Spiele. Er „opfert“ sich nicht für das
Ganze, sondern setzt sich für sich selbst ein, da er als Glied der
Ganzheit selbst bedroht ist. Wenn einem Kranken der Arm ab-
genommen wird, hat es einen Sinn, zu sagen, der Arm opfere sich
dem Ganzen, um dieses zu erhalten? Wenn die Gemeinschaft durch
und durch sittliche Substanz ist, dann kann der Einzelne wohl als
Glied des Ganzen bedroht sein und muß dafür eintreten, aber nicht
weil „das Interesse des Ganzen“ dem des Einzelnen „vorgezogen“
würde, sondern weil er selber als Glied des Ganzen mit diesem zu-
gleich steht und fällt.
§ 13. Die politischen Grundsätze des Universalismus
im Vergleich zum Individualismus betrachtet
I. Die Gerechtigkeit
Wird die Gerechtigkeit beiseite geschoben,
was sind dann die Staaten anderes als große
Räuberbanden?
Augustinus: Vom Gottesstaat IV, 4.
A. Der u n i v e r s a l i s t i s c h e B e g r i f f d e r
G e r e c h t i g k e i t
Wie der tragende politische Grundbegriff der Einzelheitslehre die
Freiheit ist, so jener der Ganzheitslehre die Gerechtigkeit. Wer von
dem selbstherrlichen Einzelnen ausgeht, muß dessen unbehindertes
Werden, die Freiheit, als oberstes Erfordernis betrachten; wer vom