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Ganzen ausgeht, dagegen die Angemessenheit der Teile im Ganzen,

die G e r e c h t i g k e i t . Vom Ganzen aus gesehen, ist daher die

Gerechtigkeit ein Begriff der richtigen Entsprechung (Korrelation)

der Teile zueinander, ein Baubegriff, ein konstruktiver Begriff. Vom

Einzelnen aus gesehen, kann man sagen: Das, was für den Teil in

der Natur des Gliedseins liegt, das ist das Gerechte; denn das Glied-

sein ist zugleich das Lebenswesentliche des Einzelnen, seine Lebens-

nahrung. Gerechtigkeit ist daher ebensowohl etwas, was der Ein-

zelne von sich aus fordert — nämlich die ihm lebenswesentliche

Gliedstellung; wie auch etwas, das vom Ganzen heraus gefordert

wird — nämlich das dem Ganzen lebenswesentliche Sich-darstellen

im Gliede. Die bekannte Formel für die Gerechtigkeit, „suum

ouique“ („jedem das Seine“) hat einen Doppelsinn: Mir wird das zu-

teil, was ich dem Ganzen bin — „ a u s t e i l e n d e G e r e c h -

t i g k e i t “ , Gerechtigkeit vom Standpunkt des Ganzen aus, die

„distributive Gerechtigkeit“, ev tai? Siavopat? bei / Aristoteles; wie

auch: Ich fordere, dem Ganzen alles sein zu dürfen, was ich ihm

sein kann (und damit zugleich mir, im Sinne meiner Selbstentfal-

tung, sein kann), eine Gerechtigkeit, die man „ h i n g e b e n d e

G e r e c h t i g k e i t “ nennen könnte. Die austeilende und die hin-

gebende Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit vom Ganzen aus und die

vom Einzelnen aus sind grundsätzlich einerlei, sind nur die beiden

Seiten der einen Gerechtigkeit. Mir wird das zuteil, was ich im

Ganzen bin = dem Ganzen werde ich zuteil, soweit ich überhaupt

(das heißt in ihm) bin. Beide Gesichtspunkte, der des Ganzen und

der des Teiles, sind also Wechselbegriffe, sie decken sich. D a h e r

i s t d i e m i r a n g e m e s s e n e S t e l l u n g i m G a n z e n

s o w o h l v o m G a n z e n a u s d a s G e r e c h t e , w i e v o n

m i r a u s .

Das bedeutet, daß die Gerechtigkeit durchaus ein s o z i a l e r

B e g r i f f ist, ein Begriff, der nur in Ganzheit, in Gemeinschaft

Sinn hat; dagegen individualistisch überhaupt nicht begründet wer-

den kann. Und es bedeutet eben darum, daß die Gerechtigkeit das

Lebenshöchstmaß sowohl des Ganzen, wie des Teiles in sich schließt.

Denn wenn, wie sich zeigte, vom Ganzen aus dem Teile die an-

gemessene Stellung zugeteilt wird, so wird das Lebenshöchstmaß

des Ganzen damit erreicht; wenn vom Einzelnen aus die ihm selbst

angemessene Stellung gesucht wird, so wird auch das geistige Le-