237
des Erkennens verwirklicht denken, gelangen wir zu keiner Zurück-
führung, zu keinem Aufgehen der Gesetze von Komplexen in denen
von Elementen. Das (historische) Datum eines Gesamtzusammen-
hanges als solchen muß bei jeder erklärenden (nomothetischen) Be-
trachtung der Bestandteile unrettbar verloren gehen
1
. Zum Gay-
Lussac-Mariotteschen Gesetz z. B. kann sich kein Gesetz von Atom-
bewegungen so verhalten, daß es aus ihm unmittelbar ableitbar, in
ihm enthalten wäre, daß es also durch dasselbe je grundsätzlich über-
flüssig erschiene; denn das Gay-Lussacsche Gesetz b e s c h r e i b t
e i n v ö l l i g o r i g i n ä r e s E r e i g n i s ! Dieser Hinweis allein
genügt zur völligen Entkräftung von Simmels Argumentation.
Wenn ein gesellschaftlicher Gesamtzustand A in allen seinen Teilen
a, b, c . . . von anderen Wissenschaften auf das exakteste nach den
Gesetzmäßigkeiten dieser Teile erfaßt wäre, so wäre damit über den
Gesamtzustand A als solchen, das heißt über den spezifischen Kau-
salzusammenhang, der ihn eben als Gesamtzustand konstituiert,
dennoch gar nichts ausgesagt. Denn entweder führt dieser über die
Gesetzmäßigkeit seiner Teile hinaus noch eine eigene Art Existenz
— oder Wissenschaft von Komplexen, speziell G e s e l l s c h a f t s -
w i s s e n s c h a f t i s t a l s s e l b s t ä n d i g e W i s s e n s c h a f t
u n m ö g l i c h .
Wäre S i m m e l selbst nur dem von ihm eingeführten Momente
der einheitlichen Wirkung der Teile gerecht geworden, so hätte er
jene Konsequenz seiner Ausgangsthese von der nur hilfsweisen,
praktischen Gültigkeit von Begriffen über Komplexe nicht mehr
ziehen dürfen (womit allerdings sein ganzer Gedankengang hinfällig
geworden wäre). Denn er hätte schließen müssen, daß ein Gesetz,
welches uns angibt, daß auf den Gesamtzustand A in bestimmter
Weise B folgt, zwar die Variation des T e i l e s (a) (als Änderungs-
bedingung) für diesen Übergang zu B verantwortlich zu machen
haben wird, daß jedoch h i e r f ü r a durchaus nicht als Teil, der
wieder aus Teilen besteht, sondern als absolute Reaktionseinheit
erscheint. Denn die Zusammenhänge durch die und in denen a be-
steht und sich verändert, erscheinen in jenem Gesetze in einem
selbständigen, das heißt grundsätzlich neuen und einheitlichen Zu-
1
Eine anderweitige, im engeren Sinne erkenntnistheoretische Begründung
kommt uns hier nicht zu.