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lenbogenmenschen. Die oberen gesellschaftlichen Schichten müssen

sich vornehmlich aus Begabungen des Handelns zusammensetzen.

Unruhige Bewegung, stete Erweiterung aller äußeren Möglichkeiten

des Lebens, aber auch höchste Äußerlichkeit sind daher / Merkzei-

chen des Kapitalismus wie der politisch atomisierten Gesellschaft.

In der ständischen Gesellschaft dagegen hat fürs erste auch die Tat-

kraft eine andere Art, da die Führer nicht einseitige Wirtschafts-

führer, Beamte, Spezialisten sind, sondern Lebensführer, die sich als

runde Menschen von Charakter und sohin auch von einer gewissen

Innerlichkeit erweisen müssen, wie wir oben sahen

1

. Zum zweiten

aber hat in der ständischen Ordnung auch der beschauliche Mensch

eine volle Lebensmöglichkeit. R u h e ,

I n n e r l i c h k e i t ,

S a m m l u n g w e r d e n d a h e r d i e G e i s t i g k e i t d e r

s t ä n d i s c h e n G e s e l l s c h a f t u n e n d l i c h v i e l m e h r

b e s t i m m e n , a l s d i e s h e u t e d e r F a l l i s t . Wer die

Bildnisse des Mittelalters mit den heutigen Bildnissen vergleicht,

wird im Mittelalter eine ungleich größere Fülle von Innerlichkeit,

Individualität und Eigenheit finden. Ein Vergleich der Handschrif-

ten von früher und heute legt bekanntlich dasselbe Zeugnis ab

2

.

In der ständischen Ordnung ist der Einzelne durch seine Auf-

gehobenheit im Ganzen des ständischen Verbandes, durch seine Zu-

gehörigkeit zu diesem Verbande selbst ein „Stand“, in dem Sinne,

daß es etwas ihm Z u k o m m e n d e s ist, das er verwaltet. Ein

zünftiger Handwerksmeister z. B. ist „Stand“, sofern er selbst wie-

der mit Gesellen und Lehrlingen ein Ganzes bildet; der Geselle ist

„Stand“, sofern er dies mit Lehrlingen und auch dem Meister zu-

sammen tut. Auf dieser Grundlage kann sich in der universalistisch-

ständischen Lebensordnung die Eigenheit und Begabung des Ein-

zelnen angemessen entwickeln. Daher wird in der ständischen Ge-

sellschaft auch viel mehr Beständigkeit herrschen als heute.

Wenn „Stand“ auf diese Weise ein Eigenes für den Einzelnen be-

deutet, so anderseits auch ein für diesen Zu-ständiges, einen Stand-

Ort im Ganzen. Damit ist wieder das angemessene Gegengewicht

zur Individualität gegeben: Das Ganze, das umschließend in sich

das Eigene einzufügen und einzugliedern hat. Während im indivi-

1

Vgl. oben S. 249 ff.

2

Vgl. dazu Ludwig Klages: Handschrift und Charakter, München 1917, S. 11.