[190/191]
265
lenbogenmenschen. Die oberen gesellschaftlichen Schichten müssen
sich vornehmlich aus Begabungen des Handelns zusammensetzen.
Unruhige Bewegung, stete Erweiterung aller äußeren Möglichkeiten
des Lebens, aber auch höchste Äußerlichkeit sind daher / Merkzei-
chen des Kapitalismus wie der politisch atomisierten Gesellschaft.
In der ständischen Gesellschaft dagegen hat fürs erste auch die Tat-
kraft eine andere Art, da die Führer nicht einseitige Wirtschafts-
führer, Beamte, Spezialisten sind, sondern Lebensführer, die sich als
runde Menschen von Charakter und sohin auch von einer gewissen
Innerlichkeit erweisen müssen, wie wir oben sahen
1
. Zum zweiten
aber hat in der ständischen Ordnung auch der beschauliche Mensch
eine volle Lebensmöglichkeit. R u h e ,
I n n e r l i c h k e i t ,
S a m m l u n g w e r d e n d a h e r d i e G e i s t i g k e i t d e r
s t ä n d i s c h e n G e s e l l s c h a f t u n e n d l i c h v i e l m e h r
b e s t i m m e n , a l s d i e s h e u t e d e r F a l l i s t . Wer die
Bildnisse des Mittelalters mit den heutigen Bildnissen vergleicht,
wird im Mittelalter eine ungleich größere Fülle von Innerlichkeit,
Individualität und Eigenheit finden. Ein Vergleich der Handschrif-
ten von früher und heute legt bekanntlich dasselbe Zeugnis ab
2
.
In der ständischen Ordnung ist der Einzelne durch seine Auf-
gehobenheit im Ganzen des ständischen Verbandes, durch seine Zu-
gehörigkeit zu diesem Verbande selbst ein „Stand“, in dem Sinne,
daß es etwas ihm Z u k o m m e n d e s ist, das er verwaltet. Ein
zünftiger Handwerksmeister z. B. ist „Stand“, sofern er selbst wie-
der mit Gesellen und Lehrlingen ein Ganzes bildet; der Geselle ist
„Stand“, sofern er dies mit Lehrlingen und auch dem Meister zu-
sammen tut. Auf dieser Grundlage kann sich in der universalistisch-
ständischen Lebensordnung die Eigenheit und Begabung des Ein-
zelnen angemessen entwickeln. Daher wird in der ständischen Ge-
sellschaft auch viel mehr Beständigkeit herrschen als heute.
Wenn „Stand“ auf diese Weise ein Eigenes für den Einzelnen be-
deutet, so anderseits auch ein für diesen Zu-ständiges, einen Stand-
Ort im Ganzen. Damit ist wieder das angemessene Gegengewicht
zur Individualität gegeben: Das Ganze, das umschließend in sich
das Eigene einzufügen und einzugliedern hat. Während im indivi-
1
Vgl. oben S. 249 ff.
2
Vgl. dazu Ludwig Klages: Handschrift und Charakter, München 1917, S. 11.