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reichbar, sie besteht für ihn förmlich nur in der Potenz, nur durch
Verehrung und Sehnsucht kann der Niedere an dem Höheren teil-
nehmen; was am besten verwirklicht wird durch gläubige Nachfolge,
durch freiwillige Unterwerfung unter die geistige Autorität. Um-
gekehrt besteht der niedere Nährstand für den rein geistigen Men-
schen nur als gleichsam äußerlicher Genosse, als Mitmensch schlecht-
hin, als K i n d , als ein so primitives Wesen, daß es fast jenseits un-
mittelbarer Verständigung liegt. Von den beiden äußersten Ständen
gilt, daß sie einander gleichsam nur vom Hörensagen kennen. So
liegen die Dinge ja auch im Organismus, wo zwar alles auf das
genaueste zusammenhängt, aber zwar wohl Magen und Darm, Ver-
dauung und Blut, nicht aber Verdauung und Gehirntätigkeit einen
u n m i t t e l b a r e n Zusammenhang haben, sondern nur einen
vermittelten.
Platons Staat wird der oben geforderten, der Natur der Dinge entsprechenden
Wechseldurchdringung der Stände unseres Erachtens nicht voll gerecht. Er hat die
grundsätzliche Schwäche, daß die bodenbebauende und erwerbende Bevölkerung
gänzlich vom Waffengebrauch, von dem Kriegerstande, ausgeschlossen ist. Da-
durch entsteht eine Kluft, etwas von Kaste, das die politische und geistige Einheit
stört (allerdings in der Erziehung wieder ausgeglichen wird).
Die geschilderte Wechseldurchdringung der Stände bedeutet dem
Grundzuge nach eine Z u r ü c k f ü h r u n g d e r S t ä n d e a u f -
e i n a n d e r (die allerdings niemals ganz erfüllt werden kann,
denn sonst wäre ja die demokratische Homogenität und Gleich-
macherei möglich). Man kann dieses so ausdrücken: „Jeder Stand
ist Wehrstand“ in der Stunde der Not oder gar im Staate der allge-
meinen Waffen- und Wehrpflicht. „Jeder Stand ist Nährstand“ im
Staate der allgemeinen Tätigkeit und nützlichen Eingliederung in
das Ganze. Nur die Zurückführung der unteren Stände auf die hö-
here und höchste Geistigkeit der obersten geistigen Spitzen ist um so
schwieriger, je unerreichbarer die / höchste Bildung der Menge ist.
Immerhin aber gilt mit dieser Einschränkung im Staate der höch-
sten Durchgeistigung, die möglich ist, auch der Satz: „Jeder Stand
ist Lehrstand“. Wenn oberflächliches Aufklärertum und marxisti-
scher Sozialismus glauben, durch die Vermehrung der Bildungsmittel
und Verbesserung der Erziehung alle Menschen auf die Stufe höch-
ster Bildung zu bringen, so ist dies nur ein Beweis dafür, daß die
Vertreter dieser Lehre selbst zur höchsten Bildung nie aufgestiegen