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gegangenen wohl keines Wortes mehr, daß die „ p a t r i m o n i a l e T h e o r i e “
H a l l e r s , w o n a c h d e r m i t t e l a l t e r l i c h e S t a a t i n l a u t e r P r i -
v a t v e r t r ä g e a u f z u l ö s e n s e i (wodurch er ja eigentlich kein Staat mehr
wäre!) von G r u n d a u f i r r i g i s t . Diese Auffassung ist vielmehr an der
Aufklärung orientiert, trotz der Fehde Hallers gegen Rousseau, sie sieht den
Staat nach individualistischer Art als aus lauter Privatverträgen zusammen-
gesetzt an! W a h r i s t , d a ß d e r S t a a t g a n z i m G e g e n t e i l a u s l a u -
t e r ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e n , n ä m l i c h V e r -
h ä l t n i s s e n d e r S t ä n d e u n d K ö r p e r s c h a f t e n b e s t e h t , das
öffentliche Rechtsverhältnis daher das Privatrecht so überdeckt, daß dieses (nach
individualiltischem Begriffe) überhaupt nicht mehr existiert — Lehensrecht,
zünftige Rechtsverhältnisse!
1
Den Versuch atomistischer Gleichmacherei und zentralistischer
Verwischung der Stände gegenüber ausgeprägt ständischen Zeiten
zeigen dagegen alle Zeitalter der Demokratie und des Kapitalismus:
Das Athen des Perikies und der Nachfolgezeit, wo die Demokratie
sich durchsetzte (der erste Anfang wurde schon mit der Verfassung
Solons gemacht); das demokratische, zum Teil sogar das absoluti-
stische Rom, das absolute Fürstentum der Aufklärungszeit; das libe-
ral-kapitalistische Zeitalter der französischen Revolution. In Athen /
und Rom ist aber das Zunft- und Genossenschaftswesen nie ganz
beseitigt worden, die gleichmacherische Demokratie konnte den in-
neren Bau der Gesellschaft in Wahrheit nicht ganz umbringen (wohl
aber die ganze Entwicklung und Kultur jener Epochen vernichten);
das aufgeklärt-absolutistische Fürstentum sodann hat in großen
Resten des Feudalwesens, ferner im Zunftwesen und selbst im nur
privilegienmäßig errichteten merkantilen Industriewesen (weil es
ja nur in privilegienmäßiger Sonderstellung, nicht in Gleich-
stellung erdacht wurde) Teile ständischer Gliederungen stehen lassen
— ja schaffen müssen; sogar das z e n t r a l i s t i s c h e B e a m -
t e n t u m hat dadurch, daß es als Übertragung der ausübenden
Fürstengewalt an fachmäßig geschulte Kreise zu kennzeichnen ist
(wodurch es gleichsam ein Fachkollegium mit ständischer Neigung
wird) ein ständisches Gepräge annehmen müssen, was also eine ge-
wisse Umbiegung des gleichmacherischen Zentralismus gegen seinen
Willen ins Ständische bedeutet
2
.
1
Vgl. unten S. 283 ff.; ferner Georg v. Below: Der deutsche Staat im Mittel-
alter, Berlin 1914. (Im atomistischen Banne sind wider Willen auch die her-
vorragenden Arbeiten von Below und Otto Hintze: Staatenbildung, Berlin o. j.
(= Deutsche Bücherei, Bd 100—101).
2
Wie oben, S. 271, dargetan.