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im Grunde überall nur ständisch gegliederte Staaten und Wirtschaf-
ten vorfindet, und daß fast standlose Zustände, wie die heutigen,
stets nur Übergänge sind, unhaltbare, krankhafte Verbildungen und
Verwischungen, die gegen die Natur der Sache sind.
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Wir behaupten, daß die G e s c h i c h t e i n W a h r h e i t
n u r s t ä n d i s c h g e g l i e d e r t e S t a a t e n k e n n t , und
daß die Verwischung der Stände in demokratischen Zeiten niemals
wirklich gelungen ist, daß sie stets nur wie eine Krankheit an der
wahren, gesunden Wirklichkeit gezehrt hat. Sowohl die politische
Atomisierung wie die wirtschaftliche Atomisierung, der Kapitalis-
mus, sind, weil gegen die Natur der Dinge, in der Geschichte immer
nur teilweise durchgeführt worden. Die d e m o k r a t i s c h e n
u n d k a p i t a l i s t i s c h e n W e l l e n , d i e ü b e r e r s t a r r t e
s t ä n d i s c h e O r d n u n g e n i m m e r w i e d e r i n d e r G e -
s c h i c h t e h e r e i n b r a c h e n , v e r m o c h t e n s t e t s n u r
a n d e r e u n d l o s e r e s t ä n d i s c h e B i n d u n g e n a n d i e
S t e l l e a l t e r u n d s t r e n g e r z u s e t z e n , n i e m a l s
a b e r v o m S t ä n d i s c h e n u n d K ö r p e r s c h a f t l i c h e n
i n W a h r h e i t l o s z u k o m m e n . Unsere individualistisch
eingestellte Geschichtschreibung, ebenso wie die allzu römisch-
rechtlich eingestellte deutsche Rechtsgeschichte, hat dafür freilich
bisher keinen Blick gehabt, sie kennt das Ständische nur in der Form
des ausgeprägten Lehens- und Feudalwesens, sieht es in seinen lose-
ren, freieren Formen gar nicht und wird daher die folgenden Be-
hauptungen wohl ungnädig aufnehmen.
Besonders ausgeprägt ständischen Bau der Gesellschaft zeigen: Das
alte Iran und Persien
1
; Sparta; Alt-Rom und Spät-Rom; auch der
altgermanische Staat (worüber noch zu sprechen ist) und das Mittel-
alter. Was als ein ausgezeichnetes Merkmal nur des Mittelalters be-
trachtet zu werden pflegt, die ständische Gliederung, ist in Wahr-
heit ein durchgängiges Merkmal aller Geschichte, aller Zeiten, aller
Völker.
Das Urteil über den mittelalterlichen Staat wird heute leider durch die lange
herrschend gewesene Theorie Hallers
2
getrübt. Es bedarf aber nach allem Voran-
1
Davon gibt z. B. Johann Gustav Droysens Geschichte Alexanders des Großen
Zeugnis. Siehe auch Georg Hüsing, Jahresbericht des Instituts für Osten und
Orient, Bd II, Wien 1918.
2
Carl Ludwig von Haller: Restauration der Staatswissenschaften, 4 Bde, Win-
terthur 1816—20.