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sind. Eine ärgere Verkennung der menschlichen Seele, einen grö-

ßeren Mangel an Menschenkenntnis kann es kaum noch geben.

Die geschilderte Wechseldurchdringung und Reduzierung der

Stände ist auch der Grund für die weitgehende Fähigkeit zu gegen-

seitiger S t e l l v e r t r e t u n g d e r S t ä n d e in ihren Verrich-

tungen. Wer je sich mit dem Studium des Organismus abgegeben hat,

weiß, daß für verletzte und ausgefallene Teile und Organe andere

deren Verrichtungen übernehmen, z. B. für zerstörte Sprach-Zentren

oder Bewegungszentren der linken Gehirnhälfte die rechte den

Dienst übernimmt; oder für einen entfernten Magen der Darm die

Verdauungsarbeit des Magens übernimmt. So auch im gesellschaft-

lichen Organismus. Jeder Stand übernimmt unter gewissen Bedin-

gungen, wie sich schon ergab, die Verrichtungen des Wehrstandes

als „das letzte Aufgebot“; jeder unter Umständen die Verrichtungen

des regierenden Standes (des politischen Standes), wie die Geschichte

der Revolutionen zeigt, in denen sich bisher ausgeschlossene Stände

der Regierung bemächtigen. Jeder Stand ist endlich ohnehin immer

auch bis zu einem gewissen Grade Nährstand (schon in seiner Eigen-

schaft als Erzeuger von „Kapital höherer Ordnung“).

Freilich hat diese Stellvertretung ihre Grenzen, aber wie biegsam

diese sind, zeigt die Geschichte bei allen Umwälzungen gesellschaft-

licher, politischer, wirtschaftlicher, geistiger Art. (Zum Beispiel wenn

bei einer Reformation der Laienstand die Priesterverrichtungen

übernimmt.) Was wir ferner während des Krieges als „Ersatz“ in

der Wirtschaft praktisch kennen lernten, die Stellvertretung einer

Ware, eines Rohstoffes durch den anderen (die z. B. alle Berechnun-

gen über die Einschließung der Mittelmächte, über die Abschließung

Englands durch den U-Boot-Krieg usw. zuschanden machte), das

besteht auch bei allen anderen gesellschaftlichen Erscheinungen und

ist nur möglich durch die innere Einheit und Wechseldurchdringung

aller Lebensbereiche.

§ 32. Von der geschichtlichen Bewährung der ständischen

Auffassung der Gesellschaft

Ist unsere Auffassung vom Wesen der Gesellschaft richtig, wonach

sie in geistige Gezweiungskreise gegliedert ist, auf welche sich die

organisierten Stände gründen, so muß die Geschichte zeigen, daß sie

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