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der Grenzen bewegt und nicht zur Erstarrung der ständischen Glie-
derung, nicht zur Ermattung der Geistigkeit, nicht zu kastenartiger
Abscheidung führt, ist sie kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Denn
die Stetigkeit der Überlieferung birgt zugleich den größten Schatz in
sich. Wahre Kultur, Vertiefung, Ruhe, Gediegenheit, treue Sitte und
Frömmigkeit gedeihen nicht im Zeichen des Emporkömmlingtums,
sondern im Zeichen der Beständigkeit.
Anders die kapitalistische und individualistische Lebensordnung.
Hier ist die Beweglichkeit der Einzelnen im Auf- und Abstieg durch
den schroffen Kampf am meisten gesichert. Der Kapitalismus ist jene
Lebensordnung, die den Emporkömmling, den self made man im
guten wie im schlechten Sinne in solchen Massen aufweist, daß die
Stetigkeit der Überlieferung in den höheren Ständen dadurch in
Frage gestellt wird.
Gegenüber der Gefahr der Erstarrung und Kastenbildung im
Ständestaate ist Rettung, außer in jenen Vorsorgen für den Aufstieg
der unteren Klassen, von denen schon in früherem Zusammenhange
zu reden war
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, und außer in der großen Zahl Selbständiger, die leb-
haften Blutwechsel ohnehin mit sich bringt, vornehmlich in der an-
gemessenen Zugänglichkeit der Bildung gegeben. Allgemeiner ge-
sagt: In einer Erziehung, welche alle Hochbefähigten zu Anwärtern
der höheren Führerstellen macht. Das bedeutet im ständischen Ge-
meinwesen, wo die ständischen Gebilde und Gemeinschaften selbst
die Eingliederung des Nachwuchses übernehmen, also die lebendige
Gemeinschaftserziehung eine größere Rolle spielt und die Schule
zum Teil in sich aufnimmt, weit mehr als heute. Solche Pflege der
Geistigkeit bedeutet in der ständischen Gesellschaft nicht nur Kul-
turpflege überhaupt, sondern sie hat darüber hinaus noch die Ver-
richtung, die Bildung / bevorrechteten Geburtsadels zu verhindern,
eine Verrichtung, mit welcher die stete Verjüngung und Erneuerung
der Gesellschaft auf das innigste verbunden ist.
Für diese uralte Aufgabe aller planmäßig geordneten Gesellschaft,
die führenden Stände nicht erblich werden zu lassen, sie immer aufs
neue dem Würdigsten und Geeignetsten zugänglich zu machen, aber
ohne Gefährdung der Stetigkeit der Überlieferung, hat die abstrakt-
konstruktive Lösung schon P l a t o n in seinem „Staate“ gegeben
Siehe oben S. 317 ff.