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einer gebildeten. Schulgeldbefreiung für Arme, Schulspeisung der
armen Schüler, Stipendien auf breiter Grundlage können hier nur
einige Erleichterungen schaffen. Soweit kann man es jedoch an-
nähernd bringen, daß wenigstens bei ganz hervorragender Begabung
die höhere Ausbildung sichergestellt wird. Auch dieses Ziel ist aber
noch hoch gesteckt. Genauer gesagt nämlich muß es heißen: bei her-
vorragender Schulbegabung. Denn leider sind Begabung für die
Schule und schöpferische Begabung nicht dasselbe. Die für die Schule
besonders Begabten sind in der Regel nicht die schöpferischen Men-
schen. Die Schule verlangt ihrem baulichen Gefüge nach hauptsäch-
lich zwei Eigenschaften: (1) Gedächtnis und (2) Zucht, Fügsamkeit.
Nun ist aber bekannt, daß gerade das Genie oft störrisch und voller
unbändiger Leidenschaft ist (Beethoven!). Hegel sprach es aus, daß
nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden sei.
Erst dann aber, wenn ein solcher Erziehungsgrundsatz, der Kraft
und edle Leidenschaft hochachtet, endlich nicht mehr auf die un-
überwindlichen Widerstände der Schulmeister stößt, wird das
Große, das Starkschmeckende und Be- / wegte dem Leben erhalten
bleiben. Erst dann wird für den leidenschaftlichen Schöpfergeist
Raum und Verständnis geschaffen.
Auch das gute Gedächtnis ist, obzwar eine häufige, so durchaus
keine beständige Begleiterscheinung der hervorbringenden Bega-
bung, weshalb manche unserer größten Männer in der Schule nicht
geradezu glänzend abschnitten (Eichendorff, Grillparzer!). Eine ge-
wisse Abhilfe ist hier allerdings dadurch möglich, daß man die
Schulen von Lehrstoff entlastet. Die Überbürdung unserer Schulen
ist doch schließlich nur der Ausdruck des individualistischen Zuges
unserer ganzen Pädagogik, der auf Unterrichtstechnik und Anhäu-
fung nützlicher Kenntnisse geht, und es zugleich notwendig an
einem i n n e r e n Verhältnis zur Bildung fehlen läßt. Je weniger
Produktivität, um so mehr äußerer Wissensstoff! (Vom Schlüssel
aller Erziehung, die Fähigkeit der S a m m l u n g zu erwecken,
weiß die heutige Pädagogik nichts.)
Ein anderer Mangel endlich, der unserem heutigen Schulwesen
anhaftet und besonders auch die Armen trifft, ist glücklicherweise
zu beseitigen, und das ist die Bevorzugung der Frühreifen. Heute
muß zum schweren Schaden aller nichtfrühreifen Begabungen im
Alter von zehn Jahren entschieden werden, ob ein Kind für die nie-