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Begabten der unteren Schichten, weil die Erhaltung eines gesun-
den, kräftig pulsierenden Lebens oberste Bedingung für die Lebens-
fähigkeit des ständischen Gemeinwesens ist. Schlechter Konserva-
tivismus führt überall in der Geschichte zu individualistischen Ge-
genschlägen. Das Mittelalter ist zuerst ins Wanken gekommen, als das
geistige Leben jener Zeit durch den Sturz der Scholastik, den No-
minalismus, und die Ermattung der christlichen Idee, später durch
Renaissance und Humanismus seine Auflösung erfuhr. Wo das gei-
stige Leben nachläßt, wo dadurch auch die / überindividuellen Bin-
dungen sich lockern, dort sind die ersten Bedingungen für die Ent-
stehung des politischen und des wirtschaftlichen Individualismus
gegeben, weil dann die materiellen Dinge in den Vordergrund tre-
ten, weil der aus dem Rahmen tretende Einzelne dann sein Haupt
erhebt. Wahre Geistigkeit ist mit Ganzheitsliebe, mit Universalität
gepaart, weil sie von ihrer Natur als einer durchaus gliedlichen,
durchdrungen ist. Aber überall wo der menschliche Geist die Fäden
verliert, die ihn an das große Ganze, an das, was über ihm und seiner
Wahrheit ist, knüpfen, dort fängt er an, sich selbst als ein Ganzes
zu wähnen und die Kraft seines Einzeltums so sehr zu überschätzen,
daß er die innere Abtrennnug vom All nicht mehr für widersinnig
und unmöglich hält. Je mehr er dann sich selbst zum Gegenstande
wird, um so mehr wird das Geistige in seinem Leben entthront, um
so mehr wird das Äußerliche, Stoffliche, Wirtschaftliche, wird Eitel-
keit und leere Bewegung an Wichtigkeit zunehmen — der Kapita-
lismus ist da: „Sire, laissez nous faire!“ Dieses Wort, das ein Han-
delsherr als Mitglied einer Abordnung an Colbert richtete, diese
Aufforderung, alle Bindung, ständische Zusammenordnung und
staatliche Gestaltung aufzugeben und den Einzelnen gewähren zu
lassen, es wird dann zum Stichwort eines ganzen Zeitalters.
Immer wieder ist ja auf solche Weise der Individualismus, der
Kapitalismus, in der Geschichte entstanden, immer wieder aber ist
die Rückkehr zu festen ständischen und gesamtwirtschaftlichen Bin-
dungen die Folge der individualistischen Anarchie gewesen — oder
der Untergang! Unsere Zeit schickt sich zu dieser Rückkehr an, für
sie gilt es nur, den Übergang zu finden. Die Vernichtung der Mit-
gardschlange des Marxismus und der Demokratie, die Schöpfung
gesunder ständischer Gebilde aus einem ganzheitstrunkenen Geiste,
das sind die Aufgaben, die unseres Geschlechtes harren. Wir Heu-