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„Niemand, niemand liebt mich ganz, bis ins Innerste der Seele“.
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Die allgemeine Staatserziehung also, die allein fähig wäre, die
jüngeren Geschlechter von den älteren zu trennen und einer ganz
unpersönlichen, / unparteiischen Eingliederung in die Stände und
Berufe zuzuführen, muß als seelen- und kulturmordend und als
Zerstörung der Familie unbedingt abgelehnt werden. In diesem
Frost würde jede zarte Blüte sterben.
Die Aufgabe, die Befähigten überall auszuwählen, ihnen die an-
gemessene Aufgabe und Stellung zuzuteilen, ist rein organisatorisch
überhaupt nicht lösbar — darüber muß sich jeder Gesellschafts-
forscher und Politiker nun einmal klar sein. Nicht organisatorisch,
nicht konstruktiv, sondern nur indem man qualitativ aufs Ganze
geht, das heißt nur, indem man einen hohen Stand des geistigen
Lebens überhaupt und freie Zugänglichkeit der Bildung für alle
wahrhaft Befähigten sichert, ist hier etwas zu erreichen. Der ganze
Geist der Gesellschaft, die ganze Richtung der Bildung muß dem
Werte nach hoch stehen. Wenn dann dazu auch noch der äußere
Umkreis der von höherer Bildung Erfaßten richtig umschrieben ist,
dann wird, da der Gang der Erziehung im ständischen Gemeinwesen
durch die ständischen Gebilde hindurchgeht, die Begabung auch im
ständischen Fachbildungswesen (und über dieses hinweg) am leich-
testen an ihre richtige Stelle kommen.
Wenn nun auch eine organisatorisch durchgreifende Lösung
grundsätzlich ausgeschlossen ist, weil die Vorteile, die den Kindern
höherer Stände in den Schoß fallen, niemals verallgemeinert und
durch keine Maßnahme ganz wettgemacht werden können, so muß
andererseits im öffentlichen Erziehungswesen alles geschehen, was
zur Auswahl, Ausbildung und Heraufführung der Hochbegabten
irgend möglich ist. Unsere Zeit hat im breiten öffentlichen Erzie-
hungswesen schon sehr viel getan, aber es bleibt noch ebensoviel zu
tun übrig. „Zugänglichkeit der Bildung für die Befähigten“, in die-
ses Wort kann man die Grundforderung fassen, die sich hier ergibt.
Man muß aber wissen, wie schwer dieses Ziel zu erreichen ist. Wenn
z. B. auch das heutige Gymnasium allgemein zugänglich ist, so bie-
tet sein Besuch dem Kinde aus einer ungebildeten und armen Fa-
milie doch ungleich größere Schwierigkeiten als demjenigen aus
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Siehe oben S. 44.