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das Wuchern ideologischen Fanatismuses bereitete. Diesem wollte
Spann die Klarheit wissenschaftlicher Erkenntnisse entgegensetzen.
In dem allseitigen Zerfall schien damals nur e i n greifbares Zu-
kunftskonzept vorhanden zu sein: das des Marxismus. Dieser aber
war in Österreich von den Zweifeln, der Selbstprüfung und der
Hinwendung zu den Tatsachen, die dem Revisionismus eigen waren,
relativ unberührt. So sah Spann offenbar zwei Aufgaben vor sich.
Einesteils galt es, den Verfall zu steuern, indem dieser aus seinen
Ursprüngen verständlich gemacht wird. Andernteils sollten die Dok-
trinen des Marxismus einer grundlegenden Kritik unterzogen wer-
den, da der Marxismus für Spann als die letzte Konsequenz des
Verfalles gilt, nicht als dessen Überwindung. Daß Spann seine Kritik
in erster Linie an den ökonomischen Theorien von Marx’ entfaltet,
ist aus dem damaligen entscheidenden Einfluß dieser Theorien zu
verstehen. Er versäumt aber natürlich auch nicht, die Kritik am
materialistischen Fundament der Theorien anzusetzen.
Gleichzeitig aber sucht Spann die Kräfte der Erneuerung aufzu-
zeigen, die aus der Fülle des Lebens aufsteigen. „Wir müssen die
Geschichte stets als ein Absterbendes, Entwerdendes und als ein
Werdendes, sich Erneuerndes zugleich betrachten.“ Ein „sich Er-
neuerndes“, das heißt doch wohl, daß Spann in allem tiefgreifen-
den Wandel ein Konstantes, ein Kontinuum sieht, das sich in immer
neuen Möglichkeiten in der Geschichte offenbart. Erst dort ist end-
gültiges Absterben, wo das Konstante in der Wahn-Sicht einer un-
beirrbaren, gradlinigen Fortschrittsentwicklung nicht mehr bewußt
festgehalten wird. Die Kraft des „sich Erneuernden“ kann aber in-
mitten des Wandels nur eine geistige sein, die Formen und Ordnun-
gen zu tragen vermag, welche das Bleibende sichern, indem sie dem
Wandel offenstehen. Spanns Gedanken führen zu einem gesunden
Konservativismus.
Auch manche sehr zeitbedingte Formulierungen Spanns lassen
zuweilen wie Schlaglichter die Situation der Zeit sichtbar werden.
Er zeigt in seiner Analyse oftmals eine Voraussicht, die sich vor
allem darin bewährt, daß manche sozialwissenschaftliche Autoren
heute mit Erkenntnissen wie selbstverständlich manipulieren, die
Spann vor mehreren Jahrzehnten — wenn auch zuweilen in viel-
leicht ungenügend scharf gezogenen Linien der Formulierung —
allen sichtbar zu machen suchte. Hiebei wird man heute gewiß auch