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Kunst. Sogar von unseren Klassikern, auch vom Sturm und Drang ist
noch zu viel Humanismus unbewältigt geblieben. Erst die Roman-
tik bricht diesen Bann ganz. Aber ich sehe heute so wenig Möglich-
keit, daß das Innerste der romantischen Kunst erfaßt, begriffen und
fortgebildet würde. Das zu leisten, braucht es tieferen Ernstes als
unsere Zeit aufbringt und ganz großer Meister, die das Schicksal
schenken muß.
Echte Kunsterziehung kennt keine Trennung von Staat und
Kunst, Kunst und Leben. Denn Kunst ist selbst nur verdichtetes Le-
ben. Daher gehört zur Kunsterziehung auch Staats- und Lebens-
erziehung. Der höchste Gegenstand der Kunst ist ja immer — der
Mensch.
Wer sich zur Kunst erziehen will, muß auch das Staunen lernen:
Unmöglich scheint immer die Rose,
Unbegreiflich die Nachtigall.
1
Alles Staunen rührt an das Heilige. Unmetaphysische Kunst ist
ein hölzernes Eisen.
c.
Sinnlichkeit (Vitalität)
Sie tritt auf als das Instinktive, das Triebleben des Menschen so-
wohl wie als Inbegriff der Sinnesorgane. Beides ist ein Ursprünglich-
Gegebenes, nicht Abgeleitetes. Hier ist vornehmlich die Stelle, wo
R a s s e u n d G e s e l l s c h a f t eng verbunden sind.
Sinnlichkeit ist an sich nicht verwerflich. Im Gegenteil, je mehr
Sinnlichkeit um so höher die Natur. Das gilt allerdings nur in dem
bestimmten Sinne, daß umfassende Naturverbundenheit (durch
Sinne) Voraussetzung für starke / Geistigkeit, starkes Handeln, zu-
letzt (vermittelt) für hohe Schöpferkraft überhaupt ist. Höhere
Geister dürfte man sich nicht naturlos, vielmehr naturgewaltig vor-
stellen. Das ist der wahre Kern des Satzes der Hegelischen Philoso-
phie, daß nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft entstanden
sei
2
. Ohne starke sinnliche Grundlage gibt es keine Geistigkeit. (Das
Tier hat dagegen keine starke Sinnlichkeit.) Sinnlichkeit ist aber
ihrem Wesen nach stets nur Grundlage, nicht Beherrscher des Gei-
stes. Darum darf diese kostbare Grundlage nicht vergeudet werden
1
Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan, Suleika Nameh = Buch
Suleika, 7 (1819).
2
Ähnlich im Philebos P l a t o n s : Das schauende Leben ist nicht ohne Lust
denkbar.