XVI.
Auslaugung und Anhäufung
Eine geschichtsphilosophische Betrachtung über richtige
und unrichtige Begabungsverwendung
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Bei allen geistigen, staatlichen und wirtschaftlichen Umgliederun-
gen entstehen neue gesellschaftliche Gebilde und sterben alte ab.
Überall wo sich alte gesellschaftliche Gebilde unter Spannungen
und Kämpfen auflösen oder umbilden, vollzieht sich ein Vorgang,
der darin besteht: daß Menschen und Kräfte aus dem schwächeren
Gebilde herausgezogen und in das stärkere Gebilde hineingezogen
werden. Wir nennen diesen Vorgang Auslaugung, sofern er den Ver-
lust von Menschen und Kräften eines Gebildes in sich schließt; da-
gegen Anhäufung, sofern er das Hereinziehen jener ausgelaugten,
fremden Kräfte in das eigene Gebilde bedeutet. Ob dieses Anhäu-
fen auch zur organischen Aneignung, zur wesensgemäßen 2 u a r -
t u n g wird, bleibt dann freilich noch eine Frage für sich (die später
zu besprechen sein wird).
Da sich in aller Geschichte Umgliederungen und daher Auflösun-
gen von Gemeinschaften und Genossenschaften unter Spannungen
und Kämpfen vollziehen, so fehlt es niemals ganz an Auslaugungen
und Anhäufungen. Aber erst in den Verfallszeiten treten sie beherr-
schend hervor, wie sich noch zeigen wird. Sie sind dann so wichtig,
daß man sagen kann: Je nachdem die Auslaugung hier und die An-
häufung dort einen unglücklichen oder glücklichen Gesamterfolg
für ein Volk, einen Staat, einen Stand, eine Kirche, ein beliebiges
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Zuerst erschienen in: Ständisches Leben, Jahrgang 4, Berlin, Wien 1934, S. 1 ff.