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Wo spricht der deutsche Geist in der Kunstgeschichte sein größtes,

deutlichstes Wort? Es ist in der Gotik (die selber nur die Fortbildung

altgermanischer Kunstart ist). Der tiefe Ernst, die fromme Inbrunst,

das Himmelstürmen, das aber zugleich gewissenhaft die Schwere des

Daseins sich klar macht und des Lebens Fruchtbarkeit in schreckhaften

Wasserspeiern, in den Scheusalen und Fratzen des Domes gestaltet —

das alles kennzeichnet die deutsche Gotik. Wer in solchem Sinne

einen gotischen Dom, z. B. die Wiener Stephanskirche, betrachtet und

tief in sich aufgenommen hat, der hat das mit Augen erblickt, worin

der deutsche Geist am eindringlichsten, gedrungensten sein Wesen

widergespiegelt hat: den unerbittlichen, ringenden Ernst, die lauterste

Innerlichkeit, die auch das Fruchtbare im Leben nicht vernachlässigen

kann; die Frage nach dem Sinne des Lebens. Äußerlich gesehen, er-

scheint das Leben vollkommen sinnlos; doch durchsucht es der Geist

von innen.

In der Dichtung ist es zuerst das Hildebrandslied, aus dessen alt-

ehrwürdigen Trümmern uns ein hartes, faustisches Schicksalslied ent-

gegenklingt. Dann wieder ist es der Parzifal Wolframs von Eschen-

bach, der uns deutschen Geist in seinem eigenen Lichte zeigt. Es ist

wieder eine faustische, eine suchende, grübelnde Dichtung. Dumpf

reitet der Jüngling dahin und verloren. Die Frage nach dem Geheim-

nis der Welt brennt ihm im Herzen. Erst wenn sie ihn ganz durch-

drungen hat, wenn er selbst ganz Frage geworden ist und Hingabe,

wenn das Dumpfgefühlte klar auf seine Lippen tritt — dann hat er

sich ganz gefunden, und zugleich den Trug der Welt entzaubert, ihr

unendliches Leid geheilt. Es ist, als hätte die deutsche Muse selbst

dieses Sinnbild unsres Wesens, unsres Dichtens an den Anfang unse-

rer Dichtung gestellt!

Später schuf uns der Meister Grünewald in seinem Isenheimer Al-

tar ein gewaltiges, gotisch-faustisches Werk. Hier, in Christi Kreuzi-

gung, ist der tiefste Abgrund deutschen Ernstes erreicht, den keiner

mehr Untergründen kann. Hier, in allen zehn Bildern des Altars, ist

der Materie so rein, so furchtlos ins Auge geblickt wie nirgends sonst:

ihre Schrecken, ihre Häßlichkeit, ihre trübe Verworrenheit sind an-

geblickt und ans Herz genommen, wie eine Mutter ihr Kind ans

Herz zieht. Nichts ist beschönigt, nichts verschwiegen, was schwer und

leidvoll ist auf dieser Erde. Und eben darum entbrennt hier dies Leid-

volle in unbeschreiblicher Verklärung, feiert das Innerste, der Geist,