131
die sich zu jenen Grundbegriffen nicht bekennen wollen (so z. B. das Lehrbuch
Georg Jellineks, ferner die Grundrisse der naturalistischen Soziologie, darunter
z. B. Ferdinand Tönnies), so zeugt das nicht gegen unsere obige Analyse des
Individualismus, sondern nur für die Unzulänglichkeit dieser neueren Versuche
in den Grundsätzen ihres Verfahrens.
B. Der U n i v e r s a l i s m u s
Der Universalismus geht davon aus, daß die Gesellschaft als solche
das Erstwesentliche sei, und daß sich die Einzelnen nur in ihr, nur
als ihre G l i e d e r zu geistig-sittlichen Persönlichkeiten bilden. Die
Richtigkeit dieser Ansicht muß durch analytische Untersuchung des
geistigen Verhältnisses der Einzelnen zueinander erwiesen werden.
Die analytische Untersuchung der Tatsachen ist daher allein der
Boden, auf dem die Kernfrage aller Gesellschaftswissenschaft, ob
Individualismus oder Universalismus die Wahrheit der Geschichte
sei, beantwortet werden kann.
Die Grundtatsache, die der Universalismus behauptet, ist nun:
daß kein Gedanke, kein Gefühl, kein Begehren, keine seelische und
geistige Regung, welcher Art immer, im Einzelnen entstehen und
bestehen kann, ohne von einem anderen mit-empfunden, mit-
gedacht, mit-gewollt, mit-gefühlt, ohne geliebt oder wenigstens
gehaßt, gebilligt oder wenigstens verurteilt zu werden. Das Verhält-
nis von Mensch zu Mensch ist daher nach dem Universalismus nicht
das der gegenseitigen Hilfeleistung, die voraussetzt, daß diejenigen,
die sich Hilfe leisten, schon von sich aus (schon vorher und ohne
diese Hilfe) existieren; sondern das der gegenseitigen E r s c h a f -
f u n g , des (geistigen) Entstehens aneinander. Dafür ist die Po-
larität in der physischen Welt (etwa beim Magneten) ein Beispiel:
Jeder Pol wird nur durch den anderen und verschwindet mit dem
anderen. So ist auch das Geistige jedes Menschen, obwohl mit ei-
gener Anstrengung erworben, doch nur durch Mit-Dabeisein eines
anderen Geistes, durch gegenseitige geistige Geburtshilfe des an-
deren, möglich. Und dies bestätigt sonnenklar alle Erfahrung. Alles
was der Mensch denkt, fühlt, will, liebt und haßt, tut er niemals
in Abschließung (Isolierung) vom Anderen, sondern in Verbunden-
heit mit Anderen, tut er wesenhaft als Freund zum Freunde, als
Schüler zum Lehrer, als Mutter zum Kinde, als Künstler zum Auf-
9
»