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nehmer, als Kritiker zum Denker, als Führer zum Nachfolger oder

umgekehrt. Selbst der schöpferische Akt des Künstlers (der äußer-

lich Einsamkeit und Versenkung erfordert) ist ohne Anteilnahme

Anderer undenkbar — nach Goethes großem Zeugnis: „Was war

ich ohne dich, Freund Publikum — All mein Gedanke Selbst-

gespräch — All m e i n E m p f i n d e n s t u m m “ . — Und bei

dem alten Pythagoräer Archytas heißt es: „Wenn jemand zum

Himmel hinaufstiege und die Natur der Welt und die Schönheit

der Gestirne erschaute, so würde das ihn beseligende Staunen seine

Süßigkeit verlieren, wenn er niemanden hätte, dem er davon be-

richten könnte.“

1

Beide Beispiele bezeugen, daß ohne Anteilnahme

eines anderen Geistes nichts Geistiges in uns entstehen noch be-

stehen kann. Aber jeder Mensch weiß dies unmittelbar und gewiß,

in welchem der Tod eines geliebten Menschen „eine Leere zurück-

läßt“, warum? — weil er Geistiges in ihm v e r n i c h t e t , oder

der sich an anderen Menschen getäuscht sieht und sich dadurch ent-

mutigt, geschwächt findet; wie umgekehrt jeder Mensch durch „Ver-

ständnis“ und „Widerhall“, die er in anderen findet, sich „angeregt“

und „erweckt“ findet. Gerade das aber ist gegenseitiges sich Er-

schaffen, ist Werden aneinander, ist s c h ö p f e r i s c h e Gegen-

seitigkeit. — Ein anderes Wort, welches das Wesen dieser geistigen

Gegenseitigkeit in ältester Zeit klar ausdrückte, ist das Pytha-

goreische Wort:

„alloq

q p'dog Eyd) — der Freund ist das andere Ich“.

Zwei sind nötig, um jedes Einzelne zu bilden.

Steht es nun fest, daß jede geistige Regung des Einzelnen den

anderen Geist (aktiv oder passiv, anregend oder sich anregen las-

send) zum Gegenglied, zum Gegenpol haben muß, dann findet der

Einzelne stets diese Lage vor: daß weder er noch der Andere (sein

Gegenpol) für s i c h jemals ein Geistiges verwirklichen, sondern

beide jeweils sich einem Ü b e r i n d i v i d u e l l e n gegenüber

sehen; das heißt aber weiter — und hier erfolgt die entscheidende

Wendung in der Erkenntnis —: daß sie beide G l i e d e r jenes

Uberindividuellen und damit G l i e d e r e i n e r G a n z h e i t

sind. Diese Ganzheit wollen wir geistige Gemeinschaft oder Ge-

z w e i u n g nennen.

1

Angeführt bei Otto Willmann: Geschichte des Idealismus, Bd 1, 2. Aufl.,

Braunschweig 1907, S. 305.