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g a m i e auf, dem Gesetz, daß die Gattin (der Gatte) nicht aus der
eigenen, sondern aus gewissen anderen Gruppen, die in der Regel
ein anderes Totemtier haben, genommen werden muß.
Die Auffassung, daß der Totemismus ein allgemeines Durch-
gangsstadium der Religionen aller Völker sei, wird aber heute, und
zwar mit Recht, bestritten. Er kommt vor allem den Sammler- und
Jägervölkern zu.
4.
Die Götter des Volksglaubens
Bei der Betrachtung des Volksglaubens macht die ethnologische Schule eine
unbewußt ins Fahrwasser des geschichtlichen Materialismus von Marx segelnde
Wendung. Sie blickt vor allem auf die Tatsache, daß die Götter im Volksglauben
Europas „Bauerngötter“ sind, das heißt Ackerbaugötter, Wachstumsgeister,
chthonische Gottheiten.
„Bei fortschreitender Kultur“, sagt Nilsson, „verursacht der Ackerbau [gegen-
über den totemistischen Jägern] eine gründliche Veränderung . . . Einmal entsteht
ein Zyklus von jährlich wiederkehrenden Riten (die Feste), um die Saat zu
fördern .. ., zweitens eine Reihe dämonischer Wesen der Saaten, der Bäume usw.,
die sowohl in tierischer wie in menschlicher Gestalt vorgestellt werden. Die
Wachstumskraft ist für die ackerbauenden Völker die wichtigste, sie wird in den
Baumzweigen (Lebenszweige, Maizweige), in den (letzten) Ähren, in einem Tier
oder einem Menschen verkörpert. Die Brautmagie, nicht selten mit sexuellen
Beziehungen, spielt eine große Rolle.“
1
5. Der Kultus
Die ethnologische Schule hat dem Kultus, gegenüber der Mythologie und
der Religiosität, die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Die wichtigste Stelle
darin nimmt das Tieropfer, namentlich auch bei den Hellenen, ein.
Das Tieropfer wird von dieser Schule entweder gedeutet als „Gabenopfer“
oder als „Speiseopfer“ im Sinne einer Art von Kommunion. Gabenopfer liegt
vor, wenn das Opfertier den Empfängern ganz überlassen wird, zum Beispiel im
Totenkult, im Heroenkult, im Meeresopfer der Griechen, bei welchem Pferde,
Stiere usw. ins Meer geworfen werden. Die Speiseopfer waren namentlich bei den
Griechen keine Gabenopfer; denn einmal erhalten davon die Götter keinen we-
sentlichen Anteil, und zum zweiten ist das Opfer auch in seinen Überresten
heilig, selbst die Asche bleibt am Opferplatze — daher das Speiseopfer als
Kommunion gedeutet wird, „in der sich der Gott und seine Verehrer zum ge-
meinsamen Mahle vereinigen. .. Selbstverständlich ist diese strenge Auffassung
mit der Zeit abgeschwächt worden, je mehr das Opfer zum Festmahl wurde. So
schon bei Homer .. ,“
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.
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Martin Paul Nilsson: Griechische Religion, a. a. O., S. 276.
2
Martin Paul Nilsson: Griechische Religion, a. a. O., S. 277.