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erfahrung, Naturerscheinungen, Mana, Tabu, Zauber, chthonischen
Mächten und noch manchen andern Erscheinungen ausgehen — in
alledem doch nur tote, wirkungslose Formen, nur äußere Gebärden
erblicken. Wir erwidern darauf: Jene Formen mögen in ihrer Be-
sonderheit wie immer zu erklären sein: Ihr S i n n e n t h ü l l t
s i c h n u r , w e n n m a n d a s D e n k e n d e s P r i m i t i v e n
a l s e i n s c h a u e n d e s e r k e n n t , d a s d e m m e c h a n i -
s c h e n U r s a c h e n b e g r i f f G a l i l e i s , B a c o n s ,
H u -
m e s v o l l s t ä n d i g f e r n e s t e h t — so vollständig, wie es
die tiefere Wahrheit verlangt. Die tiefere Wahrheit, welche die Na-
tur nie ganz tot, nie wahrhaft mechanisch denken kann. Das Den-
ken der Naturvölker ist vielmehr urlebendig, n a t u r n a h e ,
s o m n a m b u l , h e l l s i c h t i g , und das ferner eben darum
d u r c h u n d d u r c h s a k r a l ist. Das ist der Schlüssel für
alles und jedes im Leben der Naturvölker.
Gegenüber der falschen Auffassung der primitiven Religion als
leeren Aberglauben, krausen Mythos, verbildeten, gehaltlosen For-
men- und Gebärdenkram, gilt es daher die Frage zu stellen: Wo ist
die Religion, wo ist das übersinnliche Erlebnis, wo ist das Gottes-
erlebnis selbst, das zuletzt immer und unfehlbar hinter jenen Äußer-
lichkeiten des Formenwesens und Aberglaubens steht?
Gotteserlebnis und Religiosität läßt sich niemals aus jenen Äußer-
lichkeiten ableiten, sondern ist umgekehrt die Voraussetzung dafür,
daß jene äußeren Formen entstehen und inneren Sinn erlangen.
Daraus ergibt sich, daß „Macht“, „Mana“, „Tao“, „Brahman“, my-
stischer Gottesbegriff des Christentums und die Metaphysik der echt
idealistischen Philosophie im letzten Grunde und in der tiefsten
Wurzel als ein und dasselbe erkannt werden müssen, als das Reli-
giöse in der Religion. Jede Religion hat einen tiefsten Wurzelgrund
der Religiosität, der zuletzt immer und überall derselbe ist. Das
bedeutet gewiß nicht die Gleichwertigkeit der Religionen, aber die
Rettung ihres letzten Wesenskernes. So Paulus im Briefe an die
Hebräer: „Nachdem Gott von altersher ... auf mannigfache Weise
zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er zuletzt in die-
sen Tagen zu uns geredet in dem Sohn.“ — Soll die Religionssozio-
logie nicht in ein leeres Possenspiel ausarten, das vom atheistischen
Standpunkte aus das Heiligste der Geschichte, das Tiefste der Ge-