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monen“ erhoben. „Wo der primitive Mensch Wirkungen beobachtet und erlebt,
die er nicht erklären kann, in der Gewalt des Feuers, im Blitz und Donner,
Regen und Sturm ... empfindet er eine rätselhafte Macht, die stärker ist als der
Mensch ... Er stellt sich als Träger der Kraft ein Wesen vor, das er nach Analogie
des eigenen Wesens mit Bewußtsein... begabt denken muß. Eine Fülle von
Seelenwesen, die hinter den Phänomenen stehen, projiziert er in die Natur. Die
gestaltende Phantasie faßt die Götterpersonen in immer schärfere Umrisse...
und sichert sich durch eine ihnen bequeme Wohnstätte ihre Gegenwart und
Hilfe... Erfahrungen, die vom Seelenleben ausgehen, bereichern die religiöse
Vorstellungswelt... Es ist ein langer ... Prozeß fortschreitender Ausgestaltung ...
[und] Zurückdrängung der psychischen Potenzen durch geistige und sittliche, der
die Religionen der historischen Zeit geschaffen hat. Die Beobachtung des...
Wechsels von Tag und Nacht... der Jahreszeiten ... hat der Entwicklung der
religiösen Vorstellungen die Richtung(en) vom... Zufälligen auf d a s . . . All-
gemeine, von beschränkten zu universaleren Göttern gegeben.“
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Diese Worte sind recht kennzeichnend für die übliche Auffassung
von Wesen und Entstehung der Religion im Lager der naturalisti-
schen Soziologie. Die Religion soll entweder eine leere Theatralik
der Natur abschildern, indem sie Blitz- und Donnergötter agieren
läßt (im „Animismus“); oder sie soll eine kindliche Ursachenerklä-
rung der Traumerscheinungen und Verzückungen geben (im
„Manismus“); ja sie soll noch weniger als das sein und soll bloß
unpersönliche Kräfte vorstellen (im „Präanimismus“). Aber gerade
im „Präanimismus“ straft sich der empiristische Standpunkt am
grellsten Lügen. Der P r ä a n i m i s m u s m u t e t d e n e i n -
f a c h s t e n W i l d e n ä h n l i c h e A b s t r a k t i o n e n z u
w i e d e m m o d e r n e n P h y s i k e r u n d N a t u r w i s s e n -
s c h a f t l e r . Die Wilden sollen die Natur mechanisch und leb-
los auffassen! Die Wahrheit ist aber, daß der einfache Naturmensch
niemals den kunstvollen, abstrakten lebensleeren Begriff eines
reinen M e c h a n i s m u s zu fassen vermag. Hierin ist er übri-
gens nach der Meinung des Verfassers dieser Zeilen dem neuzeit-
lichen, durch Rationalismus und „Aufklärung" verbildeten Men-
schen zweifellos überlegen, der es zu einer völlig seelenlosen, näm-
lich mechanisch-ursächlichen Naturvorstellung nicht nur zum
Zwecke wissenschaftlicher Untersuchung, das heißt als Unterstel-
lung, gebracht hat, sondern auch im Leben davon beherrscht wird.
Ob die Natur wirklich ein Mechanismus ist, steht hier nicht in
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Paul Wendland: Die hellenistisch-römische Kurltur, in: Handbuch zum
Neuen Testament, herausgegeben von Hans Lietzmann, 2. Aufl., Tübingen 1912,
S. 98 f.