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„Die Wahrheit ist gleichsam der Weg Gottes zum inneren Menschen.“

1

Für Eckehart ist demnach, so dürfen wir sagen, die Wahrheit des

B e g r i f f e s etwas Abgeleitetes gegenüber der mystischen Erleb-

nisgrundlage (oder der Eingebungsgrundlage) des Begriffes. Daher

verstehen wir auch, wie Eckehart Sätze wie die folgenden wagen

konnte:

„Was ist die Wahrheit? Wahrheit ist als edel, wäre, daß sich Gott kehren

möchte von der Wahrheit, ich wollte mich an die Wahrheit heften und wollte

Gott lassen; denn G o t t i s t d i e W a h r h e i t , und alles, das in der Zeit

ist oder alles, das Gott je schuf, das ist die Wahrheit nicht.“

2

Auf dem gleichen mystischen Pfade in der Bestimmung des Wahr-

heitsbegriffes finden wir P l a t o n , wenn er sagt, die Wahrheit

sei der Gegenstand des Schauens für die Vernunft

3

; sie sei das

oberste Gut; sie sei verwandt mit dem Guten und um ihrer selbst

willen zu suchen

4

.

Und in den altindischen Upanishaden lesen wir:

„Die Wahrheit (satyam) ist das Höchste, das Höchste ist die Wahrheit. Durch

die Wahrheit fallen sie (die Wesen) nie herab aus der Himmelswelt. Denn den

Guten (sat) gehört die Wahrheit. Darum freuen sie sich der Wahrheit.“

5

„Durch die Wahrheit der Wind herweht,

Und die Sonne am Himmel glänzt,

Wahrheit der Rede Standort ist,

In der Wahrheit beruht das All.“

6

Auch für Aristoteles, der ohne jede Mystik nicht ganz verstandenwerden kann, ist

der Nus (νοΰς) „das Denkvermögen, soferne es

sich auf das Unsinnliche bezieht“, ein Vermögen, „in unmittel-

barer Erkenntnis zu erfassen“, also intellektuelle Anschau-

ung, mystisches Innewerden, woraus sich derselbe Wahrheitsbegriff

wie bei Platon ergeben müßte

7

.

1

Meister Eckehart: Lateinische Werke, Bd 4: Sermones, deutsch von Ernst

Benz, Stuttgart 1937, S. 190.

2

Meister Eckehart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Göttingen 1924, S. 57,

Zeile 31.

3

Platon: Phaidros, 247 c.

4

Platon: Staat, 509 a; 499 a.

5

Paul Deussen: Sechzig Upanishad’s des Veda, 3. Aufl., Leipzig 1921, S. 254,

Mahânârâyana-Upanishad, 62, 1.

6

Paul Deussen: Sechzig Upanishad’s des Veda, 3. Aufl., Leipzig 1921, S. 254,

Mahânârâyana-Upanishad, 63, 2; vgl. auch Brihad-Aranyaka-Upanishad, 5, 5, I.

7

Aristoteles: de anima, III, 4, 429 a, 23.