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B. E r k e n n t n i s a l s L e b e n
Nun ist es klar, wieso Meister Eckehart sagen kann, Erkenntnis
sei ein Lebensvorgang in der Seele: das Erkennen aus dem „Er-
kanntwerden“ durch Gott ist keineswegs eine bloß gedankliche Tat;
vielmehr, so ist es ganzheitlich auszudrücken, ein Befaßtwerden,
eine Rückverbundenheit in Gott. Und dies ist mehr als Denken,
es ist ein Mitleben, eine Teilnahme am göttlichen Leben. Erkennen
ist also nicht etwas Abstraktes, sondern lebendige Ganzheit, Leben.
In der zuverlässigen VII. Predigt bei Pfeiffer heißt es:
„Das innere Erkennen ist im Wesen der Seele gewurzelt und ist etwas Le-
b e n d e s d e r S e e l e . Wir sagen, das Verstehen (verstân) sei etwas Lebendes
der Seele (ein Lebensvorgang in ihr), das ist vernünftiges (geistiges) Leben.“
Und das schätzt Eckehart so hoch ein, daß er hinzufügt:
„Und in diesem Leben wird der Mensch geboren zu Gottes Sohn.“
1
Da Eckehart demnach das Leben zuletzt von Erkenntnis ableitet,
dürfen wir uns nicht wundern, einen überaus h o h e n B e g r i f f
d e s L e b e n s bei ihm zu finden:
„Was ist Leben? Gottes Wesen das ist mein Leben. Ist mein Leben Gottes
Wesen, so muß das Sein Gottes mein Sein und Gottes Istigkeit meine Istigkeit,
noch minder noch mehr.“
2
Und vorher heißt es:
„Die in der Hölle sind, die wollten nicht ihr Leben verlieren..., denn ihr
Leben ist so edel, daß es sonder alles Mittel fließet von Gott in die Seele.“
3
Daher denn auch (mystische) Erkenntnis zum Leben zurückführt,
v e r j ü n g e n d wirkt:
„Das ist jung, was seinem Anfange nahe ist. Vernünftigkeit, in der ist man
allzumale jung: je mehr man in der wirkenden Vernünftigkeit ist, je näher man
seiner Geburt ist.“
4
1
Meister Eckehart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Göttingen 1924, S. 39,
Zeile 15.
2
Josef Quint: Die Überlieferung der Deutschen Predigten Meister Eckharts,
Bonn 1932, Predigt 6, S. 106; vgl. Franz Pfeiffer, No. LXV.
3
Josef Quint: Die Überlieferung der Deutschen Predigten Meister Eckharts,
Bonn 1932, S. 105; Franz Pfeiffer, S. 204, Zeile 8.
4
Meister Eckehart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Göttingen 1924, Predigt
LXXXIX, S. 255, Zeile 3.