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mechanistische „Zellularpathologie“ immer mehr der Konstitutio-

nenlehre. Die neuvitalistische Bewegung setzte durch den Botaniker

Johannes von Hanstein und den Physiologen Gustav von Bunge

schon in den achtziger Jahren ein, Johannes Reinke, Hans Driesch

und Jakob von Üxküll folgten nach. Reinke spricht von „Gestalt-

samkeit“ und der zielsetzenden „Dominante“, Üxküll hat den Be-

griff des „Bauplanes“

1

entwickelt, Driesch den, wenn auch unkla-

ren, Begriff der „Entelechie“.

Über Driesch, da er die Verfahrenfragen ausführlich behandelte, sei hier

folgende Einschaltung erlaubt. Driesch ging über das rein Biologische hinaus

und gelangte jetzt zu methodologischen Aufstellungen, welche, wie ich mit

Freuden feststellen darf, den meinen nahekommen. Denn Driesch, der mir erst

vor kurzem durch den Hinweis eines Freundes bekannt wurde, / ist der

einzige, welcher zum Begriffe der Ganzheit gelangte

2

. Da d i e s v o n g a n z

a n d e r e n V o r a u s s e t z u n g e n h e r g e s c h a h als den meinigen, näm-

lich von biologischen, nicht von gesellschaftswissenschaftlichen, so darf dieser

Übereinstimmung ein um so größerer Wert beigemessen werden.

Weniger glücklich scheint mir Driesch in der Durchführung seiner Absichten

gewesen zu sein. Denn wenn er die Ganzheit des physiologischen Organismus

als „Entelechie“ faßt und diese Entelechie als „ F a k t o r E“ (!) in eine mathe-

matische Gleichung einschaltet, so l ä ß t e r j a d i e G a n z h e i t d o c h

w i e d e r n a c h u r s ä c h l i c h e r W e i s e w i r k e n ! Er behandelt sie da-

durch wie etwas, das nicht in den Gliedern sich darstellt, sondern selbst ein

w i r k e n d e r Teil, eine von außen eingreifende Kraft, eben ein „Faktor“

wird! Wenn ferner Driesch sein Problem dahin formuliert, nachzuweisen, „wie

das vitale Agens, ohne den Satz von der Erhaltung zu verletzen, lenkend in das

materielle Getriebe eingreifen kann“

3

, wenn somit die Ganzheit als „A g e n s“

gefaßt wird, so ist sie selber wieder auf ursächliche, unganzheitliche Weise

gedacht! Im Leben wie in der Wirtschaft läuft nichts als „Agens“, als Materielles,

Wirkendes ab — wie überhaupt in keiner Ganzheit. Der Vitalismus würde mit

solchen Begriffen in eine Nachahmung mechanischer Methoden verfallen und

sich selbst aufgeben. In d i e s e m H a u p t p u n k t h a t D r i e s c h d e n

G a n z h e i t s b e g r i f f n i c h t v e r s t a n d e n ! Eine ganzheitliche Denk-

weise ist dagegen in dem von Driesch geprägten Begriff des „äquipotentiellen

Systems“ gegeben, vorausgesetzt allerdings, daß man darunter nicht gleiche

Energiepotenzen versteht, was wieder physikalisch-ursächlich gedacht wäre, son-

dern die Tatsache, daß gewisse Zellengruppen die S t e l l v e r t r e t u n g a l l e r

L e i s t u n g e n übernehmen können

4

.

1

Jakob von Üxküll: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, Mün-

chen 1913; vgl. ferner sein Buch: Theoretische Biologie, Berlin 1920.

2

Vgl. Hans Driesch: Philosophie des Organischen, 2. Aufl., Leipzig 1921;

ferner sein Buch: Geschichte des Vitalismus, Hauptteil 1: Der Vitalismus als

Geschichte und Lehre, 2. Aufl., Leipzig 1922 (= Natur- und kulturphilosophische

Bibliothek, Bd 3).

3

Hans Driesch: Geschichte des Vitalismus, ... S. 182.

4

Weiteres über Driesch siehe unten S. 48.