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IL Gegen den Satz: „Der Teil ist früher als das Ganze“

(Atomismus, Individualismus)

Dieser Satz wird heute nirgends in voller Bewußtheit ausgespro-

chen, man würde auch vor dem offenbaren Irrtum zurückschrecken,

den er enthält. Und doch bildet er die Grundlage fast unserer gan-

zen modernen Wissenschaft, der Naturwissenschaft wie der Geistes-

wissenschaft. In der Naturwissenschaft bedeutet er A t o m i s i e -

r u n g , nicht nur im Sinne der heuristischen Hilfsvorstellung und

Arbeitshypothese für das physikalisch-chemische Denken, sondern

in dem grundlegenden Sinne der Wesenserklärung der Materie

durch die Atome, der Wesenserklärung aller physikalisch-chemi-

schen Erscheinungen und schließlich der ganzen Welt. In den Gei-

steswissenschaften bedeutet er eine geistige Atomisierung, wie so-

gleich zu erklären sein wird, in den / Gesellschaftswissenschaften

bedeutet er den theoretischen Individualismus (wie in der Folge

auch politischen). Endlich bedeutet er in allen Wissenschaften die

mechanistisch-ursächliche statt der ganzheitlichen Auffassung. Dieses

gilt es nun kurz zu erklären.

Wenn die Teile für sich bestehen und daher vor dem Ganzen sind,

so ist das „Ganze“, das sahen wir schon früher, nur die Anzahl, die

Summe, der Haufen seiner Teile und damit kein eigenes Ganzes

mehr, nur noch eine Scheinganzheit, eine Ableitung aus den sum-

mierenden Teilen. Die einzige Realität ruht jetzt in den Teilen.

Wenn man mit dieser Vorstellung Ernst macht, ergeben sich aber

folgende Sätze:

Die Welt ist ein Zusammengeraten von Atomen — denn diese

sind vor dem Ganzen, sind die letzten, die allein wirklichen Teile

1

;

die Dinge sind ein Zusammengeraten von Atomen, denn diese

sind vor dem Ganzen, sind die letzten, allein wirklichen Teile;

der Organismus ist ein Zusammengeraten von Zellen, denn diese

sind vor dem Ganzen, sind die letzten allein wirklichen Teile;

die Zellen sind ein Zusammengeraten von Atomen — denn diese

sind vor dem Ganzen, sind die letzten, allein wirklichen Teile (der

Organismus erscheint hier als physikalisch-chemisches Aggregat);

1

Statt „Zusammengeraten“ kann man in allen Beispielen auch sagen „Zu-

sammenstellen“ im Sinne von Kombination, nachträglicher Verbindung eines vor-

her selbständigen und getrennt Gedachten.