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liegt das Heil! Klar liegt es ja am Tage, daß das Ganze seine rege-
nerative Kraft nicht auf schon verlorene Teile wenden kann! Wie
der Arzt Eiterbeulen ausschneidet als das Nicht-Organische (das
organisch Nicht-Seiende!), so muß es auch die Sittenlehre fordern.
Das Herausgetretene hat seinen Zusammenhang mit dem Ganzen
verloren, sich selbst vereinzelt und ist darum nicht mehr. Dieses
Unabänderliche und Gerechte muß die Sittenlehre erkennen und
ihm Rechnung tragen. Das tut denn auch jeder Einzelne, der sich
im N e u e n bessert. Und so erweist es auch die Geschichte aller
Zeiten. Sie lehrt uns überall, daß neue Zeitalter, die Schlechtes zu
überwinden hatten, dieses Schlechte selbst niemals bessern konnten,
sondern sich mit ihren neuen Ideen an bisher unverdorbene, unbe-
rührt gebliebene Teile des Volkes wenden mußten, aus denen erst
das neue Leben erwuchs. — Auch des Aristoteles Begriff der Reini-
gung,
κάδαρσις,
in welcher er eine der Grundwirkungen oder
Zwecke der Tragödie und ernsthaften Poesie erblickt, darf hier an-
gerufen werden. Die Tragödie bewirkt, so sagt er, „durch Mitleid
und Furcht die Reinigung von diesen Affekten“
1
. Das Wesen der
aristotelischen „Reinigung“ wird von Zeller dahin bestimmt,
„ . . . daß die Reinigung in der Befreiung des Gemüts von einer das-
selbe beherrschenden leidenschaftlichen Erregung oder einem auf
ihm lastenden Druck besteht; und dementsprechend werden wir
unter derselben ... nicht eine Läute- / rung in der Seele verblei-
bender, sondern eine Entfernung ungesunder Affekte zu verstehen
haben.“
2
Dem entspricht es auch, daß der B e g r i f f d e s R i c h t e r s
notwendig nicht als nachsichtig und milde, sondern als gerecht ge-
faßt werden muß. Gerechtigkeit hat aber wesentlich die rechte
Verhältnismäßigkeit der Glieder in ihrer Stellung zueinander an
sich. Erst dadurch ja ist wahre Milde möglich, grausame Strenge
und jede Strafe als Vergeltung und gleichsam Rache ausgeschlossen.
Strafe ist jetzt auf den Ausscheidungsvorgang, das Aufschneiden
der Eiterbeule, auf die Aufhebung des wuchernden Schein- und Un-
1
Aristoteles: Poetik, E. 6. 1449b, 24: „
έλέον καί φόβον περαίνονοα την των
τοιούτων παϋημάτων κάϋαροον.
“
2
Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen
Entwicklung dargestellt, Teil 2, Abteilung 2: Aristoteles und die alten Peripate-
tiker, 4. Aufl., Leipzig 1921, S. 777, vgl. auch S. 783.