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Auf diese Weise behandelt die Atomistik die Korpuskel als absolut Losge-
trenntes — ein begrifflicher Widersinn, der wohl nicht mehr überboten werden
kann, aber im gesellschaftlichen Individualismus seinen würdigen Vetter — oder
Vater? — hat. Daß die atomistische Theorie der Materie ihren wesenswidrigen
Unstetigkeitsbegriff auf dem Wege der Quantifizierung der Qualität nachträglich
durch den Stetigkeitsbegriff (Infinitesimalrechnung!) ersetzen will, geht aus dem
Früheren hervor.
In Wahrheit ist das Wesentliche an der Unstetigkeit aber nur dieses, daß ein
Ding ins andere (ein Glied ins andere) nicht durch stetige, unendlich kleine Über-
gänge übergehen kann; aber dagegen in seiner ganzen Wesenheit auf das andere
Ding (Glied) a n g e l e g t , das heißt durch Entsprechung bestimmt ist. Der
Riß, die Unstetigkeit zwischen zwei Gliedern, gleichsam der leere Raum, wird
durch jene Stetigkeit überwunden, die im Enthaltensein in seiner Ganzheit für
jedes Glied liegt.
Die Entsprechung ist jenes unentbehrliche Moment der Gründung und Ver-
stetigung, durch welches das einzelne Ding gestützt, gehalten, ja vor der Ver-
nichtung geschützt wird.
Daß die Vorstellung von Atomen, das heißt einer mit Abgründen durch-
setzten Materie keine verfahrenmäßige Notwendigkeit für die Physik ist, beweist
übrigens das Vorhandensein nicht-atomistischer Schulen in ihr zu allen Zeiten.
Die Entsprechung hat auch ihre arteigenen V o l l k o m m e n -
h e i t s f o r m e n . Die vollkommene Entsprechung ist Ausge- /
glichenheit (Zustand der „Ruhe“, „Statik“); die unvollkommene
Unausgeglichenheit. Unausgeglichenheit enthält aber einen Wider-
spruch, die Nicht-Entsprechung, das heißt die K r i s e in sich, da-
her sich an sie eigene Ausgleichungsvorgänge zur Behebung der
Störung schließen: Umgliederung, Krise sind die zur Neuherstel-
lung der Entsprechung führenden Vorgänge
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.
Besonders wichtig ist ferner alles das, was man als „Schutz gegen
Störungen der Entsprechung“ oder K r i s e n s c h u t z bezeich-
nen kann, die Rücklagen (Reserven) und Vorräte aller Art. Solche
dienen zum Beispiel in der Wirtschaft sowohl der Aktiengesell-
schaft, der Bank wie jedem Einzelnen; im Krieg dem Feldherrn
gegen unvorhergesehene Zwischenfälle und Wendungen, und schon
in der Organisation des Heeres wird die „2. Linie“ und das „letzte
Aufgebot“ als Reserve von der 1. Linie unterschieden; in Recht
und Staat die höheren Instanzen; im Denken die Vorbehalte und
Einschränkungen und so fort. — Der Vorrat nimmt im organi-
schen Leben wie in der Gesellschaft überall die mannigfachsten For-
men an. Die Natur der Vorratsbildung als Vollkommenheitskatego-
rie wird besonders deutlich, wenn wir sie als Krisenschutz nicht nur,
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Darüber siehe unten § 19, S. 182 ff.
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