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Wir erkannten ja auch die wahren Quellen der Unvollkommenheit.

Wir sahen, daß diese nie in einer sachlichen Fehlausgliederung liegt

(wodurch das Unvollkommene schon an der Quelle, schon primär

wäre), sondern im Eigenleben der Glieder

1

.

/

Dem Satz, daß Vollkommenes vor Unvollkommenem sei, ent-

spricht endlich noch die Folgerung: Unvollkommenes kann nur in

demselben Sinne Bestand haben wie Krankheit, Irrtum, Irrsinn —

Erscheinungen, welche sich selbst als selbstverzehrende, als zum Tod

führende, kennzeichnen (Krankheit = ein Stück Sterben) und da-

durch das Nicht-Gesollte als das Nicht-Seiende erkennen lassen

2

.

Gelten alle diese Sätze, dann ist auch ihre Bedeutung für die Ver-

fahrenlehre nicht zu übersehen. Es kann Wesenserkenntnis und

Werterkenntnis nicht jene letzte, innere, unüberbrückbare Gegen-

sätzlichkeit haben, welche ihr die neukantischen Schulen zuschrei-

ben. Beide, Wesens- und Werterkenntnis, streben im letzten Grunde

zur Einheit und sind als verschiedene nur möglich, weil sie Abzwei-

gungen eines und desselben Stammes bilden.

Von unseren Sätzen aus fällt auch ein Licht auf alle Geschichts-

erklärung, sofern in ihr der Vollkommenheits- und Wertbegriff,

zum Beispiel durch Hervorhebung von „Verfall“ und „Auf-

schwung“, staatsmännischen und künstlerischer Leistungen und so

fort, eine entscheidende Rolle spielt. Hierbei erkennt man die ganze

Größe des Wortes von Hegel: „Was vernünftig ist, das ist wirklich,

und was wirklich ist, das ist vernünftig.“

Einen Rückschritt gegen Aristoteles und Hegel stellt die ober-

flächliche, naturalistische Auffassung von heute dar, für die ein

Wort Eduard von Hartmanns bezeichnend ist: „Die Vollkommen-

heit ist offenbar eine ästhetische Kategorie, welche sich unter die

allgemeinen verirrt hat.“

3

/

1

Siehe oben S. 110 f.

2

Siehe oben §

II

, S.

IOI

ff.

3

Eduard von Hartmann: Geschichte der Metaphysik, 2 Bde, Leipzig 1899 bis

1900, Bd 1, Leipzig 1899, S. 60 (= Eduard von Hartmann’s ausgewählte Werke,

Bde 11 und 12).