V i e r t e r A b s c h n i t t
Das innere Schauen
Denn herrlich ist nur, was mit uns geboren,
Aus freier Hand wird Göttliches verliehn,
Die meisten sind von Anbeginn verloren
Und müssen unbegabt der Erd’ entfliehn.
Doch wen das Schicksal einmal auserkoren,
Ihn aus der Nacht ans ew’ge Licht zu ziehn,
Den hebt es früh empor aus dem Getümmel
Und öffnet über seinem Haupt den Himmel.
S c h e l l i n g
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G. Das innere Schauen
A. G r u n d l e g u n g
Mit dem Begriffe des Schauens berühren wir den Angelpunkt
unserer Geisteslehre und ihren Gegensatz zur heute herrschenden
Seelenlehre. Darum wird ein längeres Verweilen bei diesem Punkte
nötig und der geneigte Leser um besondere Anteilnahme gebeten.
Es ist merkwürdig zu beobachten, wie sehr sich unsere heutige
wissenschaftliche Seelenlehre in Widerspruch mit den alltäglichen
Ansichten von Geistessachen befindet. Die alltäglichen Ansichten
gehen von der „Begabung“ eines Menschen als dem Grundlegenden
wie von einer Selbstverständlichkeit aus. Und das mit Recht. Sie
betrachten die Verschiedenheit der Begabungen als die allererste, am
Anfange jeder Seelenlehre stehende Tatsache. Schon die uralte Lehre
von den / vier Temperamenten hat dieser Meinung einen tiefen
Ausdruck verliehen. Jeder Mensch, so können wir diese natürliche
Ansicht in unseren Begriffen wiedergeben, ist v e r s c h i e d e n
g e s c h a f f e n u n d s c h a f f t n a c h d i e s e r G e s c h a f -
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Schelling: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 10, Stuttgart 1861, S. 448.