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Gewand und was sonst noch wie aus dem Ei das Hühnchen sich bilden sollte.“

1

/

Goethe schrieb den „Werther“ ohne bewußten Plan, traumhaft, „nachtwand-

lerisch“, wie er selber sagt. Im Vorspiel zum Faust schildert der junge Dichter,

wie das Dichten zugeht, wenn er seine Visionen anredet:

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“, und dann fortfährt:

„Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,

Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt.“

L e o n a r d o sah schon vorher im Geiste die Personen seines „Abendmahles“

und dann erst suchte er in den Straßen nach Modellen dazu. So geht es jedem

echten Maler. Dasselbe sagt auch D ü r e r s Wort: Ein richtiger Maler ist in-

wendig voller Figur; und dasselbe sagt R a f f a e l , wenn er über den Ursprung

seiner Bilder der Jungfrau an seinen Freund schrieb: „Da man so wenig schöne

weibliche Bildungen sieht, so halte ich mich an ein gewisses Bild im Geiste,

welches in meine Seele kommt.“

2

Wir schließen diese Belege mit jener D a r s t e l l u n g d e r E i n g e b u n g ,

d i e M ö r i k e in seinem Gedichte „An einem Wintermorgen, vor Sonnenauf-

gang“ gibt. Wir setzen das ganze Gedicht unverkürzt hierher.

„O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!

Welch neue Welt bewegest du in mir?

Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir

Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

Einem Kristall gleicht meine Seele nun,

Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen;

Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn,

Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen,

Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft

Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.

Bei hellen Augen glaub’ ich doch zu schwanken;

Ich schließe sie, daß nicht der Traum entweiche.

Seh’ ich hinab in lichte Feenreiche?

/

Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken

Zur Pforte meines Herzens hergeladen,

Die glänzend sich in diesem Busen baden,

Goldfarb’gen Fischlein gleich im Gartenteiche?

Ich höre bald der Hirtenflöten Klänge,

Wie um die Krippe jener Wundernacht,

Bald weinbekränzter Jugend Lustgesänge;

Wer hat das friedenselige Gedränge

In meine traurigen Wände hergebracht?

1

Johann Wolfgang von Goethe: Zur Morphologie (1807), Naturwissen-

schaftliche Schriften, herausgegeben von Rudolf Steiner, Bd z (= Deutsche Na-

tional-Literatur, Stuttgart o. J., Bd 114), S. 114 (Die Sperrungen stammen von

mir).

2

Angeführt in „Raffaels Erscheinung“ aus den „Herzensergießungen eines

Klosterbruders“ (Wackenroder), Jena 1914, S. 19.