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f e n h e i t s e i n e r s e i t s w i e d e r . Das ist es, was in „Be-
gabung“, „Charakter“, „Temperament“ zur Erscheinung kommt.
Wie falsch und ärmlich dagegen ist die Ansicht der assoziations-
psychologischen Schulen! Indem sie zuletzt alle nur ein Zusammen-
treten und Auseinandertreten der aus Sinneseindrücken abgeleiteten
„Vorstellungen“ kennen, können sie die Verschiedenheit der Bega-
bungen grundsätzlich nicht in ihre Systembegriffe aufnehmen. Denn
die Sinneseindrücke der Menschen sind nicht so verschieden wie ihre
Begabungen. Mozart und seine Schwester, Otto der Große und sein
Kanzler sahen und hörten ungefähr das gleiche — und doch, welch
ein Unterschied der Menschen! Die assoziationspsychologischen
Schulen müssen aber notgedrungen zuletzt alles auf eine Verschie-
denheit der Erfahrungsinhalte zurückführen und trachten, die Be-
gabungen möglichst aus Umwelt und Übung abzuleiten, was freilich
ein unmögliches Beginnen ist. Das schon früher erwähnte empiristi-
sche Sprichwort: „Nichts ist im Verstande, was nicht in den Sinnen
war“, „nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu“
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, will die
seelischen Erscheinungen fälschlich von außen (Umwelt) und ebenso
fälschlich von unten herauf (Sinnlichkeit), von den Elementen her,
verstehen und läßt für das Innere nur noch Gewohnheit und Übung,
die sich zuletzt ja auch äußerlich ableiten lassen, zurück! — Wenn
die Assoziationspsychologen darüber hinaus noch von „Disposi-
tion“ reden, so ist dies nicht nur unzulänglich und nichtssagend,
sondern auch nicht mehr folgerichtig. — In Wahrheit sind aber die
letzten Verschiedenheiten des Geistes von oben herunter, das heißt
von ihrem inneren Geschaffenwerden her, zu verstehen. Darauf
eben deutet der richtige, jedem einleuchtende Begriff der Be- /
gabung als des A n f a n g e s d e r S e e l e . Die Seele fängt mit sich
selbst an, nicht mit dem Äußeren der Sinnlichkeit.
Die Erklärung der „Begabung“ und des „Temperamentes“ liegt,
so sagten wir, darin, daß all das, was im seelischen Leben des einzel-
nen Menschen geschieht, zuletzt nur ein Ausführen dessen ist, was
in ihm schon vorgegeben, in ihm vorgeschaffen wurde. Darin liegt
kein Hinwegschieben der Frage oder gar eine Prädestinationslehre,
wie wir später sehen werden. Zuvor haben wir noch bei dem gefähr-
lichen Begriffe der „Disposition“ gegenüber jeder offenen und ver-
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Siehe oben S. 189.