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[227/228]

Trotzdem wir in der Seinslehre bei der allgemeinen Wesens-

erklärung des Schaffens

1

die Hauptpunkte schon behandelten, müs-

sen wir hier zu einer nochmaligen ausführlichen Darstellung über-

gehen.

/

Der Beweis für unsere Lehre von der Begabung und der Ein-

gebung ist um so leichter zu führen, je mehr wir von Durchschnitt

und Gewöhnlichkeit absehen und zu den höheren Begabungen hin-

aufsteigen. N i c h t s i s t v e r k e h r t e r a l s d e r V o r g a n g

d e r m o d e r n e n n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e i n g e -

s t e l l t e n S c h u l e n , v o m E i n f a c h e n , d e m S i n n -

l i c h e n , a u s z u g e h e n , um das angeblich „Komplexe“, „Ver-

wickelte“ des Geistes — in Wahrheit ist es das Ursprünglichere —

dadurch besser verstehen zu können. Als ob der Geist ein Knoten

wäre, in dem sich viele Fäden verwickelt hätten. Die Tatsachen des

höheren Geisteslebens können vielmehr bei einem solchen „aufstei-

genden Verfahren“ überhaupt nicht zum Verständnisse gebracht

werden. Denn nicht ein „Verwickeltes“ ist im Geiste, das sich aus

dem Einfachen, Niederen ableitet, sondern ein Ursprüngliches, Hö-

heres, aus dem sich das Niedere ableitet.

Die Lebensgeschichte aller hervortretenden Menschen zeigt klar,

daß am Grunde ihrer Seele zuerst vorgeschaffen wurde, was sie

dann ergreifen, um es ihrerseits weiter zu gestalten. Im einfachen

Menschen zeigt sich das gleiche, nur in weniger auffallender Weise.

Jeder Mensch ist nach Menschenweise begabt und nicht etwa nach

Immanuel Hermann Fichte: Psychologie, Bd 1, Leipzig 1864, Bd 2, Leipzig

1873 — ein herrliches Werk, das mehr bietet als alle späteren Lehrbücher der

Psychologie, und das auch den Begriff der Eingebung für den Aufbau des Be-

griffsgebäudes der Seelenlehre zu verwenden sucht. — Diesen Begriff entwickelte

allerdings schon Franz von Baader (vgl. zum Beispiel Sämtliche Werke, heraus-

gegeben von Franz Hoffmann, Bd 2, München 1854—60, S. 328), ohne ihn jedoch,

wie das in seiner Art lag, systematisch zu verwerten.

Carl Gustav Carus: Psyche, 1. Aufl., Pforzheim 1846, neu herausgegeben von

Ludwig Klages (gekürzt), Jena 1925. — Klages verweist in seinem Vorworte mit

Recht auf Goethe als dessen ersten Vorgänger (S. XI). — Alle diese Seelenlehren

stellen daher den Traum und die magnetischen Zustände als Erscheinungen des

Vorbewußtseins in den Vordergrund.

Im n e u e r e n p s y c h o l o g i s c h e n S c h r i f t t u m e fehlt das Vorbe-

wußte um so weniger, je mehr sich die Verfasser über den assoziationspsycholo-

gischen Standpunkt erheben. Doch würde es zu weit führen, darauf einzugehen.

Vgl. unten S. 227 ff.

1

Siehe oben S. 52 ff.