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Pflanzenweise. Aber je schöpferischer der Mensch, um so Größeres
wurde in ihm geschaffen, um so deutlicher zeigt er sich daher von
den schöpferischen Gedanken beherrscht und besessen.
Über M o z a r t berichten alle übereinstimmend, daß er ohne Unterlaß von
seinen Schöpfungen erfüllt war: „Seine Anstrengung ging dabei oft so weit“,
sagt Nissen von ihm, „daß er nicht nur die ganze Welt um sich her vergaß,
sondern ganz entkräftet zurücksank und zur Ruhe gebracht werden mußte“
1
.
Mozart, der Intuitivste aller schöpferischen Menschen, bietet den Anblick des
unversieglichen Wunders des Geistes, in jeder Stunde des Lebens von Einge-
bung und Schaffen erfüllt zu sein. „Er war / notgedrungen“, so sagt einer seiner
nüchternsten Lebensbeschreiber ohne Übertreibung, „in jeder Minute seines Da-
seins in der Phantasie musikalisch beschäftigt, selbst wenn er äußerliche banale
Dinge aller Art betrieb. Er l e b t e f a s t i m m e r i m s c h ö p f e r i s c h e n
Z u s t a n d e.“
2
Das bezeugt auch der letzte Brief des heiligen Meisters, den er
kurz vor seinem Tode an Da Ponte richtete: „Doch das Bild des Unbekannten
[des „grauen Boten“, der das Requiem bei Mozart bestellte] will nicht von
meinen Augen weichen. Ich seh ihn ohn’ Unterlaß. Er bittet mich, er dringt in
mich, er verlangt von mir die Arbeit [das Requiem], darum fahre ich fort, sie
niederzuschreiben. Es e r m ü d e t m i c h w e n i g e r a l s d a s A u s r u -
h e n.“ Dieser letzte Satz sagt mehr, als Worte sagen können
3
.
Ähnliche dämonische Besessenheit ist auch von M i c h e l a n g e l o bekannt.
Seine stürmische, nie rastende Arbeitsweise hielt ihn Tag und Nacht an seinem
Werke fest. Ähnlich muß man sich das unbegreiflich fruchtbare Schaffen des
Dichters C a l d e r o n vorstellen.
G o e t h e äußert sich über das künstlerische Schaffen mit aller erdenklichen
Klarheit. „Man sieht deutlich ein, was es heißen wolle, daß Dichter und alle
eigentlichen Künstler geboren sein müssen. Es muß n ä m l i c h i h r e i n -
n e r e p r o d u k t i v e K r a f t j e n e N a c h b i l d e r , die im Organe, in der
Erinnerung der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole, f r e i w i l l i g o h n e
V o r s a t z u n d W o l l e n l e b e n d i g h e r v o r t u n , sie müssen sich ent-
falten, wachsen, sich ausdehnen, zusammenziehen, um aus flüchtigen Schemen
wahrhaft gegenständliche Bildungen zu werden. Wie besonders die Alten mit
diesen Idolen begabt sein müssen, läßt sich aus Demokrits Lehre von den Idolen
schließen. Er kann nur aus der eigenen lebendigen Erfahrung seiner Phantasie
daraufgekommen sein. — Je größer das Talent, je entschiedener bildet sich gleich
anfangs das zu produzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von Raphael und
Michelangelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriß das, was dargestellt werden
soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfaßt. Dagegen werden spätere, ob-
gleich treffliche Künstler auf e i n e r A r t v o n T a s t e n e r t a p p t , es ist
öfters, als wenn sie erst durch leichte, aber gleichgültige Züge aufs Papier ein
Element erschaffen wollen, woraus nach und nach Kopf und Haar, Gestalt und
1
Angeführt bei Arthur Schurig: Wolfgang Amadeus Mozart, Sein Leben, seine
Persönlichkeit, seine Werke,
I
Bde, Bd 2, Leipzig 1923, S. 363.
2
Arthur Schurig: Mozart, Leipzig 1923, Bd 1, S. 71 (von mir gesperrt).
3
Arthur Schurig: Mozart, Leipzig 1923, Bd 2, S. 341 (von mir gesperrt).