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Der Begriff der Gezweiung höherer Ordnung belehrt uns auch,
daß weder das geistige Vermögen allein noch die sinnlichen Reize
oder Eindrücke allein eine Empfindung hervorrufen können. Der
Reiz und die physiologische Erregung des Sinnesorgans haben ver-
anlassende, haben auslösende Bedeutung. Die sinnliche Anregung
und Anleitung ist dem Geiste unentbehrlich. Darum begreifen wir,
daß Blindgeborene auch in der Ekstase keine Farben und Gestalten
sehen und von Gestalten und Farben auch nicht träumen. Das
Stoffliche als eigener Faktor ist in der Gezweiung höherer Ord-
nung unentbehrlich. D a d u r c h i s t d e r s c h l e c h t e S p i -
r i t u a l i s m u s u n d e b e n s o j e d e A r t v o n S o l i p -
s i s m u s v e r m i e d e n , der Vorrang des Geistes aber dennoch
gewahrt.
Verstehen wir die sinnliche Empfindung von der Gezweiung hö-
herer Ordnung her auf die angegebene Weise, dann erkennen wir,
daß sowohl das höhere Geistesleben wie das niedere auf einem Zu-
stande beruht, den man eine dauernde Verzückung nennen muß,
die seine Getrenntheit und Vereinzelung gegenüber dem Reiche der
Stofflichkeit überwindet. Woher sollte denn auch das Glück und
die Seligkeit des geistigen wie des sinnlichen Erlebens kommen?
Der Reichtum des Geistes und der Reichtum der Natur, das ist
die Ernte des Lebens in dieser Welt.
III. Der Vorrang des Geistes vor der Sinnlichkeit
Die Stellung der inneren Sinnlichkeit und der äußeren Sinnes-
erfahrung ist für unsere Geisteslehre dadurch bestimmt, daß wir die
Sinnlichkeit als eine eigene Stufe unterscheiden. / Diese Stufe er-
scheint in der Herabgliederung des Geistes als die letzte, genetisch
als die erste.
E m p i r i s m u s u n d S e n s u a l i s m u s verwechseln das
Genetische mit dem Wesenhaften. Daß die Stufe der Sinnlichkeit im
wesenhaften Aufbaue des Geistes nicht das Erste sei, wie der Empi-
rismus und Sensualismus wollen, geht aus dem gesamten Zusammen-
hange unserer Untersuchung hervor.
An der Geisteslehre K a n t e n s wird die Stellung, die er der
Sinnlichkeit zuwies, immer bewunderungswürdig bleiben. Das Ge-