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er die volle Probe auf die Entfaltbarkeit, die Bewährung dessen,
was vorerst noch im Innern des Geistes verharrte. (Daher auch das
Sprichwort: „Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht.“) Jeder
Mensch ist in dem, was er echt und beständig empfindet
1
, willens-
stark — aber auch nur in dem!
Von dem Gegenstande oder Objekte des Handelns ist zu sagen,
daß es ein s e l b s t g e m a c h t e s ist. Das Ich : G e g e n -
s t a n d - V e r h ä l t n i s i m W i s s e n u n d d a s I c h :
G e g e n s t a n d - V e r h ä l t n i s i m H a n d e l n
i s t n i c h t d a s g l e i c h e . Das „Willensding“, das Gewollte (
όρεχτόν
,
das heißt das Z i e l , ist nicht dasselbe „Ding“, ist nicht in demselben Sinne
ein „Ding“, wie das sinnlich erfahrene „Ding“ oder wie das
Erkenntnis„ding“, das Gedachte. Das Erkenntnisding
νοητόν
(gei-
stiger Gegenstand, das Gedachte) und das
αίσθετόν
(sinnlich
empfundener Gegenstand) gehören zusammen, aber das Gewollte,
όρεχτόν
(das Ziel, der Willensgegenstand), ist nicht mehr im glei-
chen Sinne ein Gegenstand.
/
Das Handeln geschieht nur mittelbar in Gezweiung. Der Gezweiungsvorgang
selbst ist auf die innere Welt des Denkens und Empfindens beschränkt. Erst sofern
diese Schichten die Grundlage des Handelns sind, also nur mittelbar, geschieht
auch das Handeln in Gezweiung
2
.
Einer ausführlichen Erwägung bedarf noch die Frage des Vor-
ranges zwischen Wissen und Wollen.
Der alte Streit um den Vorrang von Wissen oder Wollen stand
unter der falschen Voraussetzung, als sei das „Wollen“ eine ebenso
einfache Grundtätigkeit des Geistes wie das Wissen. Unter dieser
Voraussetzung ist die Frage auch insofern schwer lösbar, als das
„Denken“ schon selbst eine Setzung, ein Schaffen ist (das fälschlich
„Wollen“ genannt diesem den Vorrang verschaffen würde). Anders
nach unseren Voraussetzungen. Hier entscheidet sich die Frage von
selbst für den Vorrang des Wissens. Jedoch ist dazu zweierlei zu
bemerken. Erstens, nicht nur das Wissen, sondern a l l e Geistes-
inhalte früherer Stufen, der höheren (Glaube, Annahme, Vollzug)
1
„empfindet“ — gleichviel ob es sich um äußere und innere Sinnesempfin-
dungen handelt (der Säufer ist willensstark im Trinkenwollen) oder um geistige
Eingebungen.
2
Den Nachweis siehe in meinem Buche: Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig
1930, S. 263 ff.