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komme. Man hat dem Lehrgebäude Diltheys nicht einmal die Be-
deutung eines lehrreichen Schulbeispieles beigemessen, geschweige
denn, daß man den köstlichen Schatz tiefer methodologischer Klä-
rung und Bereicherung, den es birgt, zu heben sich bemüht hätte. So
haben sich zu ihrem Nachteile die Soziologie und die sozialen Einzel-
wissenschaften mit Dilthey nicht auseinandergesetzt — eine Lücke,
die das Nachfolgende zu seinem Teile ausfüllen will.
1. D a r s t e l l u n g
1
Unter Geisteswissenschaften versteht Dilthey das Ganze der Wis-
senschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit,
also den Menschen und die Menschheit, Geschichte und Gesellschaft
1
Die nachfolgende Darstellung muß leider notgedrungen, wie oben begründet,
weiter ausholen, als es der direkte Zweck der Untersuchung in diesem Zusam-
menhange verlangt. Auch sind einige, übrigens wenig erhebliche Wiederholungen
gegenüber dem späteren Kapitel, in welchem Diltheys Auseinanderlegung der
gesellschaftlichen Objektivationssysteme besprochen wird, nicht zu vermeiden.
Wir sind für die Darstellung Diltheys fast ausschließlich angewiesen auf sein
Buch: Einführung in die Geisteswissenschaft, Versuch einer Grundlegung für das
Studium der Gesellschaft und Geschichte, Bd 1 (einziger Band), Leipzig 1883. Die
seitherigen Arbeiten Diltheys liegen zwar meist innerhalb des im Band 1 der
„Einführung“ niedergelegten Planes, liefern aber für unseren Gesichtspunkt
wenig Neues. Wir erwähnen hier: Ideen über eine beschreibende und zerglie-
dernde Psychologie, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften,
Leipzig 1894; Beiträge zum Studium der Individualität, Sitzungsberichte der Ber-
liner Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1896; Beiträge zur Lösung der Frage
vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem
Recht, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1890;
Die Einbildungskraft des Dichters, Bausteine für eine Poetik, in: Philosophische
Aufsätze, Eduard Zeller gewidmet, Leipzig 1887, S. 303—482.
Von der Literatur ü b e r Dilthey kommt in Frage: O t t o G i e r k e : Eine
Grundlegung für die Geisteswissenschaften, in: Preußische Jahrbücher, Bd 53,
Berlin 1884, S. 105—144 (woselbst ein trefflicher Bericht und eine warme Beur-
teilung des g a n z e n Werkes); ferner G u s t a v S c h m o l l e r : Zur Metho-
dologie der Staats- und Sozialwissenschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Ver-
waltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg 7, Leipzig 1883, S. 975 ff.
(eine Rezension von Carl Mengers „Untersuchungen über die Methode der So-
zialwissenschaften“ und Wilhelm Diltheys „Einführung in die Geisteswissen-
schaft“) ; P a u l B a r t h : Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig
1897, S. 365—376; E r n s t B e r n h e i m : Lehrbuch der historischen Methode
und der Geschichtsphilosophie, 4. Aufl., Leipzig 1903, S. 690 f. und öfter. —
M e i n Aufsatz: Zur soziologischen Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey,
in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd 59, Tübingen 1903, S. 193 ff.,
ist in das Obige in verkürzter Form hineinverarbeitet.